Als wir vor 18 Monaten unsere digitale Transformation starteten, wussten wir, dass wir bekanntes Terrain verlassen werden. Es begann eine komplexe Reise mit zunehmender Ungewissheit für die Menschen im Unternehmen aber auch für uns im Vorstand. Vorbilder fehlten weitestgehend. Denn in Deutschland hatte bisher kein Unternehmen in vergleichbarer Größe diesen Weg konsequent und unternehmensweit gewagt.
Bisher konnten wir uns auf eine weitgehend stabile Organisation verlassen – mit langfristigen Plänen, funktionaler Arbeitsteilung, hierarchischen Mustern und Zielvorgaben und klarer Delegation. Gute Erfahrungen, die wir mit agilen Schnellboote-Projekten und einem Innovationslab gemacht haben, ließen sich im Unternehmen nicht skalieren. Die Silos erwiesen sich als viel zu starr. Das „Exploit-Betriebssystem“ unserer Organisation war nicht für große Veränderungen und Flexibilität ausgelegt. Kontinuierliche Verbesserungen ließ das System zu – aber keine Disruption oder gar „Störung“ von außen.
Nun wurde ein zweites Betriebssystem für große Teile unserer Organisation nötig: Das „Explore-Betriebssystem“. Ein Organisationsmodell, das den steigenden Erwartungen unserer Kunden und unserer Beschäftigten an schnellere Produktzyklen, mehr Flexibilität, stärkere Vernetzung, größere Einbindung und menschliche Nähe sowie Kreativität und Agilität gerecht wird. Das erfordert aber auch ein neues Führungsverständnis – angefangen beim Vorstand.
Der Wandel gelingt nur mit einer antagonistischen Strategie
Durch diese Parallelität der „zwei Betriebssysteme“ setzen wir uns im Vorstand täglich mit einem Dilemma auseinander: Wir müssen Effizienz und Stabilität vorantreiben und gleichzeitig offen für das Neue, für Veränderung und Innovation sein. Wir arbeiten bis heute an der Veränderung unserer eigenen Haltung und verändern unsere Arbeitsweise permanent, um besser „beidhändig“ zu führen. Denn das Schlüsselwort der Stunde heißt: Ambidextrie – Beidhändigkeit. Neben den klassischen Vorstands- und Gremiensitzungen nehmen wir uns Zeit, um die Veränderungen gemeinsam mit den Menschen in unserem Unternehmen zu gestalten und voranzutreiben. Dabei haben wir auch für unsere Vorstandsarbeit gelernt, mit agilen Arbeitsmethoden wie Scrum oder Kanban zu arbeiten und die Transparenz unserer Arbeit im Unternehmen zu erhöhen. Gerade im Top Management und im Rahmen neuer Rollen (Tribe Leads, People Leads) müssen wir heute mit der linken Hand disruptive Innovationen fördern und gleichzeitig mit der rechten das Kerngeschäft verbessern können. Und das wird immer herausfordernder.
Klassische treffen moderne Führungskulturen
Wir haben heute ein Neben- und Miteinander von zwei verschiedenen Arbeitsweisen und Führungskulturen. Durch die unternehmensweiten Initiativen und Sprints im Rahmen der Transformation entsteht eine neue Organisationsform mit einer agilen und netzwerkartigen Struktur. Damit sind auch unterschiedliche Führungsformen verbunden. Führungskräfte, die stärker mit der Innovation von Geschäftsmodellen zu tun haben, fordern den Status Quo heraus. Sie geben Raum für kritisches Denken. Sie experimentieren mit Ideen. Und sie akzeptieren das Risiko zu scheitern. Das ist der Motor von Agilität. Ganz anders sieht es für Führungskräfte im Kerngeschäft aus. Sie müssen eher gegen kurzfristige Gewinn- oder Optimierungsziele managen. Bei Ihnen herrschen oft klassische Führungsformen vor, nämlich direktive oder aufgabenbezogene Führungsstile. Aber auch bei solchen Aufgaben setzen wir agile Arbeitsmethoden ein, wo immer es sinnvoll erscheint.
Trotz starrer Regulierung flexibel bleiben!
Gerade in großen Unternehmen gibt es für beide Führungsformen eine Berechtigung. Die strengen Regeln der Corporate Governance zwingen Vorstände in einem hochregulierten Umfeld wie bei uns in der Finanzindustrie allerdings zu einem engmaschigen, regulierten und dokumentierten Denken und Handeln. Das muss sein – aber es bedeutet oft genau das Gegenteil von Exploration und Agilität.
Für das Top-Management ist die Herausforderung besonders groß. Hier ist Metakompetenz gefragt. Vorstände müssen zwischen links- und rechtshändigen Aufgabenstellungen dynamisch wechseln: Sie müssen mit der linken Hand im Sinne der Corporate Governance und mit der rechten Hand disruptiv und flexibel arbeiten. Das klingt nicht nur widersprüchlich – das fühlt sich auch oft so an. Und doch: Beidhändigkeit, Ambidextrie, muss eine Kernkompetenz für Vorstände und C-Level in agilen Organisationen sein. Insofern wünsche ich allen Leadern in der Transformation nicht nur ein gutes Händchen für den Umgang mit dem Wandel – sondern zwei!
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