Zu Beginn der Pandemie standen vor allem in Italien und Spanien die Menschen auf den Balkonen und applaudierten den Pflegekräften, die Tag und Nacht alles gaben. Ihr Standing in der Gesellschaft hat sich erhöht. Doch Ansehen alleine reicht nicht aus, um Menschen für den mitunter harten Berufsalltag in der Pflege zu begeistern.
Im Frühling letzten Jahres applaudierten Menschen an Fenstern und auf Balkonen medizinischem Personal. Ein Ausdruck von Wertschätzung für deren heldenhaften Einsatz im Kampf gegen das Virus. Der Applaus ist nach der ersten Welle längst verhallt. Geblieben sind eine Corona-Prämie sowie das Gefühl von mehr Anerkennung in der Gesellschaft – und die gleichen Probleme wie zuvor. Die Arbeitsbedingungen in Pflegeberufen sind für die Pflegenden körperlich wie mental belastend, und die niedrige Bezahlung steht seit Jahren in der Kritik. Zwar hat eine Pflegereform Anfang 2019 die Finanzierung von Pflegekräften für Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen verbessert. Auf dem Arbeitsmarkt hierzulande gibt es jedoch nicht genug qualifizierte Fachkräfte. Alleine das Halten von Beschäftigten gleicht einer Mammutaufgabe, gerade in einer Ausnahmesituation wie dieser.
Applaus mit Ende
Medienberichten zufolge ist die Zahl der Pflegekräfte von April bis Juli 2020 um 9.000 Stellen gesunken. Der Pflegebranche stehe eine Kündigungswelle bevor, heißt es. Heinz Rothgang, Professor für Gesundheitsökonomie an der Universität Bremen, kann die Indizien dafür nicht bestätigen. Bei den Zahlen handle es sich um eine Sonderauswertung der Bundesagentur für Arbeit. Er bezeichnet diese als eine Momentaufnahme. Im August 2020 sei die Situation bereits besser gewesen als von den Medien suggeriert. Die Ursache für den Rückgang sieht er vielmehr in der natürlichen Fluktuation begründet – vor allem aber darin, dass während des ersten Lockdowns alles heruntergefahren wurde und sich Einrichtungen kaum um Recruiting bemüht haben. Seine Bedenken hinsichtlich einer eventuellen Kündigungswelle beziehen sich eher auf die Zeit nach Corona. „Aus dem Verantwortungsbewusstsein heraus lässt kaum eine Pflegekraft ihre Klinik im Stich, wenn es am schlimmsten ist“, sagt Rothgang. Er kann sich jedoch vorstellen, dass viele nach der Krise für sich den Job neu bewerten und dann eine Kündigung erwägen.
Der Wissenschaftler kann den Unmut des Pflegepersonals nachvollziehen. Nach dem Applaus sei wenig passiert, die Corona-Prämie habe für mehr schlechte als gute Stimmung gesorgt. Laut Rothgang haben Pflegekräfte das anfängliche Hin und Her der Prämie als negativ und die Bezugskriterien als ungerecht empfunden. Er erinnert daran, dass in der ersten Welle teils persönliche Schutzausrüstung wie Atemmasken fehlten und Beschäftigte unter Gesundheitsrisiken weitergearbeitet hätten. In der dritten Welle heiße es seitens der Politik, dass die Teams auf den Intensivstationen erst einmal abwarten sollen. Das führe dazu, dass viele den Hals voll haben. Der Gesundheitsexperte weiß, dass für die Problematik in der Pflege eher systemische Sachverhalte verantwortlich sind und einzelne Arbeitgeber daran kaum etwas ändern können. Die Personalschlüssel und wie viele Pflegekräfte Einrichtungen insgesamt einsetzen, schreiben Gesetze und Verordnungen vor.
Pflege im Fokus
Die Überlastung des Gesundheitssystems – insbesondere in Anbetracht der aktuellen Situation – führt bei Pflegenden zu Frust. Einige äußern in sozialen Netzwerken öffentlich Kritik. „Mein Job wurde mir in den letzten Jahren unmöglich gemacht. Patienten wurden namenlose Klienten auf dem Fließband. Corona hat das Fass zum Überlaufen gebracht“, schreibt eine Krankenpflegerin auf Twitter und gibt an, ihren Job beendet zu haben. Unter dem Titel nicht selbstverständlich hat sich der Fernsehsender Pro Sieben in einer siebenstündigen Dokumentation Ende März dem Pflegenotstand angenommen. In Echtzeit begleitete eine Bodycam den Alltag einer Gesundheits- und Krankenpflegerin. In Einspielern berichten Pflegekräfte über ihre Erfahrungen. Sie zeigen Defizite auf und machen deutlich, welche Belastungen die Pandemiesituation für die Pflege bedeutet. In den sozialen Medien erhält die Dokumentation positives Feedback. Viele Menschen drücken via Kommentar oder Posting den Pflegenden Respekt und Anerkennung aus.
„Die Pflege ist durch die Pandemie stärker in den Fokus gerutscht“, sagt Andrea Kappelhoff, Pflegefachkraft beim Evangelischen Johanneswerk in Bielefeld. Die examinierte Gesundheits- und Krankenpflegerin arbeitet in einer Einrichtung für Demenzkranke. Sie berichtet davon, dass Verwandte und Bekannte bei Gesprächen häufiger ihre Wertschätzung für ihren Job ausdrücken. „Gerade die Kolleginnen und Kollegen im Krankenhaus verdienen Respekt, weil sie so viel leisten“, sagt Kappelhoff. Doch auch in Fachbereichen wie ihrem – fernab der Intensivpflege – sind die Belastungen seit Beginn der Pandemie gestiegen. So trägt sie den gesamten Dienst über einen Atemschutz wie FFP2-Masken. Dies erschwere nicht nur die Arbeit für sie persönlich, vor allem falle es den Demenzkranken schwerer, die Personen hinter der Maske zu erkennen. „Das äußert sich in deren Reaktionen, denn gerade Lächeln und Mimik spielen bei der Arbeit mit Demenzkranken eine große Rolle“, sagt Krankenpflegerin Kappelhoff. Zu ihren Aufgaben zählen unter anderem die Grund- und Behandlungspflege, das Stellen von Medikamenten oder das Schreiben von Dokumentationen und Planungen. Hinzugekommen sind anfangs viele Telefongespräche, als Besuche in Einrichtungen untersagt waren. „Es herrschte große Verunsicherung bei den Angehörigen – diese haben wir versucht zu nehmen“, sagt Kappelhoff. Später seien die Dokumentation und die Koordination von Besuchen und Schnelltest hinzugekommen.
Arbeit mit Sinn
Die Arbeitsbelastung in der Pflege ist körperlich wie psychisch hoch. „Wenn mehr Zeit zur Verfügung steht, ist es einfacher“, sagt Kappelhoff. Doch darauf hat sie nur bedingt Einfluss. Denn je nach Pflegegrad stehen unterschiedliche Pauschalen zur Verfügung, an denen sich letztlich der Personalschlüssel orientiert. Die Gesundheits- und Krankenpflegerin hebt hervor, wie erfüllend die Arbeit mit Menschen ist. „Wir kriegen so viel positives Feedback“, sagt sie. Warum zu wenige Menschen einen Pflegeberuf ergreifen, könnte ihrer Meinung nach unter anderem an der Schichtarbeit und Diensten an Wochenenden und Feiertagen liegen. Manche halte dies gegebenenfalls zurück. Andere würden vielleicht von begrenzten Aufstiegsmöglichkeiten ausgehen. Dabei gebe es verschiedene fachliche Weiterbildungen, die auch ein Weiterkommen ermöglichen. Als positiv für das Berufsbild wertet sie die neue generalistische Ausbildung der Alten-, Kranken- und Kinderpflege. So ist die Berufsausbildung weniger stark auf einen Bereich fokussiert, was den Blickwinkel von Auszubildenden für andere Wege öffnet. Am Ende spiele aber natürlich auch das Gehalt eine Rolle bei der Berufswahl.
Befragungen von Wissenschaftler Rothgang zeigen: Die Bezahlung ist vor allem für die jüngere Generation ein Thema. Bei Berufserfahrenen und jenen, die ausgestiegen sind, ist das Gehalt in der Regel nicht der Knackpunkt. Sie beklagen vielmehr die Unplanbarkeit ihrer Arbeits- und Freizeit. Schließlich werde man aufgrund geringer Personaldecke oft aus dem Frei wieder zur Arbeit berufen. Um beispielsweise dem Personalmangel in der Heimpflege zu begegnen, rät er dazu, auf Assistenzkräfte mit ein- bis zweijähriger Ausbildung zu setzen, die das Fachpersonal entlasten. Bei Assistenzkräften sei der Arbeitsmarkt noch ausgeglichen, sodass sich schneller Ressourcen bilden ließen. Der Pflegeexperte, der im Auftrag des Gesetzgebers ein Personalbemessungsverfahren für die Heimpflege entwickelt hat, berichtet, dass in vielen Einrichtungen die Fachkräfte alle Aufgaben übernehmen. Seinem Ansatz zufolge sind aber die Aufgaben mit Qualifikationsniveaus zu hinterlegen und dann von entsprechendem Personal zu erbringen, denn nicht für jede Aufgabe brauche es eine Fachkraft. Eine kompetenzorientierte Pflege wäre ein wichtiger Beitrag zur Professionalisierung der Pflege.
Recruiting ohne Drehtüreffekt
„Wir brauchen mehr Hände in der Pflege“, sagt Thomas Hesse, Personaldirektor des Klinikums Saarbrücken. Die Fachkräftesituation in der Pflege sieht er in dem strengen Kostensystem begründet, in dem Einrichtungen lange Zeit gesteckt haben. Viele Jahre sei es im Gesundheitssystem darum gegangen, Einsparungen vorzunehmen. Dies habe den Beruf für den Nachwuchs unattraktiv gemacht. Jetzt stünde zwar mehr Budget zur Verfügung, aber es sind nicht ausreichend Fachkräfte vorhanden. Hesse hält es für wenig sinnvoll, sich auf einen Drehtüreffekt zu konzentrieren – also um Wechselwillige von anderen Krankenhäusern zu werben. Stattdessen liegt sein Fokus darauf, generell mehr Personal in Pflegeberufen aufzubauen. Damit meint er einerseits, junge Leute für den Ausbildungsberuf zu begeistern, andererseits Fachkräftepotenzial im Ausland zu rekrutieren.
Das Klinikum Saarbrücken mit rund 2.000 Beschäftigten setzt auf verschiedene Maßnahmen. In einem vierjährigen Pilotkurs hat es die Krankenpflegeausbildung mit der Fachausbildung zur Intensivmedizin kombiniert. Sonst dauert alleine die Ausbildung drei und die Fachausbildung zwei Jahre. „Intensivmedizin ist ein Nadelöhr“, sagt HRler Hesse. Der erste Pilotkurs, der im Sommer 2021 endet, ist ein Baustein der Personalstrategie. Ein weiterer ist das Auslandsrecruiting. Hesse hat dazu über die Zentrale Auslands- und Fachvermittlung der Bundesagentur für Arbeit ausgebildete Fachkräfte mit Berufserfahrung in Mexiko rekrutiert. „Die Ausbildung ist mit unserer vergleichbar. Es ist eine hohe Kompetenz vorhanden“, sagt er. Der Erwerb der Deutschkenntnisse sei nicht einfach, aber deren Anerkennung Voraussetzung. Beim Recruiting im Ausland ist ihm wichtig, dass dies gemeinsam mit der Zentralen Auslands- und Fachvermittlung geschieht, um ein Land nicht durch Fachkräfteabwanderung zu destabilisieren. Eine Herausforderung sieht Hesse darin, die Menschen an das Krankenhaus und die Stadt zu binden. Integrationsmaßnahmen während einer Pandemie, wenn sich niemand treffen darf, seien schwierig. Die Klinik löst das aktuell über Online-Angebote.
Weiter versucht das Klinikum über gute Arbeitsbedingungen Menschen im Beruf zu halten. Dazu zählen beispielsweise Möglichkeiten der Kinderbetreuung oder ein eigener Springerpool. Ebenso können Beschäftigte ihre Arbeitszeit von 100 auf 80 Prozent reduzieren und jederzeit wieder hochfahren – auch kurzfristig und unabhängig der gesetzlichen Brückenteilzeit. Mit der Corona-Pandemie hat das Klinikum ein System eingeführt, bei dem alle Beschäftigten per Mail ihre Anliegen mitteilen können – seien es medizinische oder organisatorische Fragen. Die Geschäftsführung beantwortet alle Nachrichten selbst. Den Personaldirektor erreichen rund 350 E-Mails pro Monat. Es gehe darum, Unsicherheiten und Sorgen zu nehmen
„Unterm Strich konnten wir durch unsere Maßnahmen 25 Vollzeitkräfte aufbauen“, sagt Hesse. Das höre sich erst einmal wenig an, aber ausgeglichen seien damit auch Austritte durch Fluktuation und Altersrenten. Er ist sich sicher, dass sich das Ansehen von Pflegeberufen in der Bevölkerung verändert hat. Das macht er unter anderem daran aus, dass das Klinikum noch nie so viele Bewerbungen für Ausbildungsplätze erhalten hat wie in diesem Jahr.
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