Alle sprechen über Leadership und dessen vielfältige Variationen. Selbst versierte HRlerinnen und Personaler verlieren im Meer der Anglizismen schon einmal den Überblick. Fest steht jedoch, gute Führung braucht vor allem eines: Menschenfreundlichkeit.
Eine Leadership-Infusion würde unsere Performance pushen, wir sollten also asap dazu meeten.“ Wir alle kennen Sätze wie diesen. Vielleicht ist er bislang in Ihrer Company noch nicht gefallen, das wäre für Ihre Leader eine gute Nachricht. Aber auf Anglizismen zu verzichten, fällt in der Unternehmenswelt und insbesondere im Personalwesen – aka Human Resources – augenscheinlich schwer. Da wundert es nicht, dass auch zwei zentrale Begriffe nur selten übersetzt werden: Management und eben Leadership. Während über Ersteres schon seit Jahrzehnten unermüdlich gesprochen und geschrieben wird, ist zuletzt das Thema Führung in den Vordergrund gerückt. Und da wir im deutschsprachigen Raum aus historischen Gründen berechtigterweise ungern von Führern sprechen, dreht sich eben alles um Leader.
„Leadership ist ein Teilbereich des Managements“, erklärt Dirk Lippold, Hochschulprofessor und Berater für Führungs- und HR-Themen. Als ehemaliger Geschäftsführer der Unternehmensberatung Capgemini fußt sein Wissen nicht nur auf Theorie: „Managen heißt, etwas über Organisation und Planung zu einem Soll zu führen. Führung bedeutet erst einmal, anderen Menschen auf dem Weg zu diesem Ziel Orientierung zu geben und eventuelle Steine wegzuschaffen, die ihnen vor die Füße fallen.“ Das klingt zunächst simpler als es ist. Denn zu gutem Leadership gehört noch einiges mehr als zu navigieren und mit dem Räumfahrzeug vorauszufahren. Begeisterung und Wertschätzung sieht Lippold als oberste Erfordernisse. Offenheit und die Fähigkeit, Vertrauen sowohl zu wecken als auch zu schenken, kommen gleich dahinter. Führung ist ganz offensichtlich eine Aufgabe für Menschenfreunde.
Das ist nicht besonders überraschend. Dennoch – auch wenn wir alle schrecklich gern sprechen über Agilität, flache Hierarchien und Kommunikation auf Augenhöhe: Es ist noch längst nicht überall die Regel, dass für Führungsaufgaben diejenigen nominiert werden, die dazu geboren sind, die sich für die Aufgabe begeistern, empathisch auf Teams einzugehen. Stattdessen bekommt oft Titel und Team, wer sich als exzellente Fachkraft hervorgetan hat.
Schlechte Führung ist teuer
Dass sich ein solches Vorgehen rächen kann, weiß HR am besten. Eine gute Führungskraft erkennt und schult die Potenziale des gesamten Teams und des einzelnen Mitglieds. Bei lustloser Führung fällt nicht nur dieser Effekt weg, oft laufen auch die Untergebenen davon. Beschäftigte verlassen keine Jobs, sondern ihre Führungskräfte, heißt es oft. Eine Studie des US-amerikanischen HR-Softwareanbieters Businessolver aus diesem Jahr hat dafür eine eindrucksvolle Zahl erhoben: Mehr Empathie ihrer Vorgesetzten würde 92 Prozent aller Kündigungswilligen nach eigener Aussage dazu veranlassen, zu bleiben. Derweil gehen Führungskräfte selbst eher davon aus, dass die Abtrünnigen das Unternehmen verließen, weil sie mit ihrem Gehalt unzufrieden waren. „Wenn jemand zum Leader werden soll, ist inhaltliche Expertise wichtig. Noch viel wichtiger ist aber die Begeisterung, mit Menschen zusammenzuarbeiten, ein Glitzern in den Augen“, sagt Experte Dirk Lippold. Dafür sollte HR das Augenmerk mehr auf Sozialkompetenzen richten, statt sich an fachlichen Qualifikationen abzumühen.
Leadership speist sich aus einer Wärme für andere Menschen – auch im Abgleich zum kühleren sachorientierten Managementbegriff. Während Topmanagerinnen und Unternehmenslenker sich oft eher mit Letzteren identifizieren, ist im Mittelmanagement die zunehmende Hinwendung zum Leadership, zum Menschen, eher spürbar. Das beobachtet auch Anton Dörig, der sich als Berater, Autor und Redner intensiv mit dem Thema auseinandersetzt. „Dass sich Denkmuster ändern, sehen wir schon am Wandel des Vokabulars“, sagt der Schweizer, der selbst im internationalen Sicherheitsumfeld in leitenden Funktionen tätig war: „People Culture statt Humankapital, Human Relations statt Human Resources – da bewegt sich etwas.“
Das muss es auch. Denn begehrte Fachkräfte schauen sich die Leadership-Kultur im Unternehmen sehr genau an. Basta-Kultur funktioniert nicht mehr. Vorgesetzte, die von sich sagen, sie führten lieber an der kurzen Leine: Sie werden an Grenzen kommen, denn Leinen haben ausgedient. Stattdessen gibt es jährlich neue Fachbücher über Agile Leadership, also die Befähigung zur Selbstführung eines jeden Teammitglieds und über Situatives Führen, bei dem sich Vorgesetzte chamäleongleich an die Bedürfnisse der Teammitglieder anpassen. Andere Führungsstile, wie der Kooperative, zielen darauf, dass sich alle Kolleginnen und Mitarbeiter in die Entscheidungsfindung einbringen. „Vieles davon ist natürlich alter Wein in neuen Schläuchen“, sagt Dörig. Das sei aber nicht schlimm: „Ein guter Leader sollte heutzutage ebenfalls das Marketing draufhaben, um seine Ideen und Ziele an sein Team verkaufen zu können“, findet er. Erst einmal muss aber das Topmanagement, das sich für eine neue Art der Führung entscheidet, gemeinsam mit HR jede einzelne Führungskraft an Bord holen. Sales-Leute wissen das: Ein Produkt, von dem man selbst überzeugt ist, verkauft sich sehr viel besser und einfacher. Doch dieser Schritt wird zuweilen verpasst. Anstatt Buzzwords und Wochenend-Deepdives braucht es ein grundlegendes Aufschlüsseln, was der neue Ansatz bedeutet und wie der oder die Einzelne ihn im eigenen Stil umsetzen kann.
Die neue Scheinfreiheit
Beliebte Narrative der modernen Führungsarten sind die von Freiheit und Selbstverantwortung. Doch sie sollten bedächtig verwendet werden. Denn es ist eine Typfrage, wie viel Gestaltungsspielraum ersehnt und wie viel Orientierung gefordert ist. „Nicht alle Geführten wünschen sich mehr Verantwortung und Selbstbestimmtheit“, sagt Dörig. Auch die Stimmen derjenigen sollten Gehör finden, die sich nicht dem Zeitgeist entsprechend einen hyperflexiblen Arbeitsalltag mit selbst geschaffen Strukturen wünschen, sondern stattdessen mehr Lenkung brauchen. Egal, welcher Führungsstil gewählt wird: Unternehmen und das Personalmanagement haben eine Fürsorgepflicht gegenüber den Beschäftigten. Zuweilen wird Teammitgliedern eine Scheinfreiheit verordnet, die in Wahrheit noch mehr Druck auslöst. „Das sehen wir oft in agilen Organisationen“, beobachtet Führungsexperte Dörig. „Führungskräfte geben Verantwortung ab und erwarten ein Mehr an Engagement. Gleichzeitig gibt es weder mehr Geld noch mehr Kompetenzen.“ Hier sieht er das große Manko vieler Unternehmen in der Führungskultur. Vertrauensarbeitszeit ist dafür ein gutes Beispiel. Das Output-orientierte Arbeiten mögen vor allem viele junge Beschäftigte wegen der größeren Flexibilität, die es im Alltag ermöglicht. Gleichzeitig geht damit etwas verloren, wofür Gewerkschaften stets gekämpft haben: Die Möglichkeit zur Abgrenzung wird mit hochgezogener Augenbraue quittiert, der Druck, stets zu performen, wächst.
Viele der neuen Führungsstile setzen also auf den Abbau von Hierarchien. Aber wie viel Demokratie verträgt Führung? „Stellen Sie sich eine Optimumskurve vor“, sagt Lippold. „Mehr Freiheiten zu geben, stärkt das Team – aber es gibt immer einen individuellen Kipppunkt, an dem der Grad der Demokratisierung überschritten wird.“ Führung bedeutet, diesen Punkt exakt abzupassen.
Bei den jungen Generationen sieht Lippold die agile Organisation trotz aller Herausforderungen als überlegen an. Mit Werkzeugen wie Scrum sei man besser in der Lage, die Potenziale junger Beschäftigter zu heben, Empowerment zu bieten – „Niemand möchte sich noch wie ein Kind behandeln lassen“. Im Vorteil sind hier Start-ups, bei denen ohnehin alle erst einmal auf einem ähnlichen Hierarchielevel starten. Der Change, beispielsweise bei einem Mittelständler oder Konzern, ist anstrengender und langwieriger. Hängt die Umsetzung von New Leadership an einzelnen Vorreitern und Trendsetterinnen, verpufft die Wirkung schnell. Das bedeutet: Aufsteigende und neues Personal sollten gezielt auf die erforderten Sozialkompetenzen und Offenheit gegenüber der im Unternehmen gelebten Kultur hin abklopft werden. Und: Die Unternehmensspitze muss bereit sein, sich den kulturellen Wandel Zeit und Geld kosten zu lassen. Das Management sollte sich gemeinsam mit HR – hier nämlich ebenfalls in Leadership-Position – fragen: „Wie viel Energie wollen wir investieren?“ Ohne Vorbilder auf der obersten Führungsebene haben neue Leadership-Ansätze nämlich keine Chance.
Neutrale Führung funktioniert nicht
Empathische Leader beobachten, wie viel oder wenig Orientierung einzelne Personen brauchen, und sprechen es offen an, wenn sich jemand aus dem Team selbst überfordert. Eine One-fits-all-Lösung ist Führung nie. Und am Ende gilt es – egal ob man die Metapher von Dirigentin, Kapitän oder Fußballtrainer bevorzugt – ja auch darum, ein großes Ganzes zusammenzuhalten und nach außen zu verteidigen. Dirk Lippold mag das Trainer-Bild: „Der FC Liverpool würde ohne Jürgen Klopp nicht funktionieren“, sagt er. Denn auch exzellente Einzelspieler entfalten nur im klug gesteuerten Gesamtgefüge ihre Kraft. Klopp sei ein Leader mit leuchtenden Augen und der Bereitschaft, auf jeden Spieler individuell einzugehen – und für seine Mannschaft nach außen mitunter auch gegen Widerstände die Stellung zu halten. Eine gute Führungskraft kann keine neutrale Instanz sein. „Es muss sich um jemanden handeln, der eine klare Haltung hat und eine Vision verfolgt“, sagt Anton Dörig. Sonst driften Teams auseinander.
Diese Gefahr drohte vor allem in den vergangenen anderthalb Jahren. Seit Ausbruch der Pandemie wurde nämlich vor allem ein Ansatz thematisiert: das sogenannte Digital Leadership. Gemeint war damit allzu oft: Wir geben den Menschen einen Laptop mit nach Hause und organisieren regelmäßig Videokonferenzen. Leadership-Experte Lippold seufzt. „Wo fange ich da an?“ Zunächst handelt es sich aus seiner Sicht bei Digitaler Führung um eine Fehlübersetzung. „Hier würde man besser beim Anglizismus bleiben“, sagt er. „Oder von digitaler Führungskompetenz sprechen. Wir werden ja nicht von Computern geführt.“ Gute Führung baut generell auf vier Säulen: den personalen Kompetenzen wie Loyalität und Eigenverantwortung, den Aktivitäts- und Handlungskompetenzen wie Tatkraft und Entscheidungsfähigkeit, den Fach- und Methodenkompetenzen und schließlich den Sozial- und Kommunikationskompetenzen. Digital Leadership braucht all das auch – und sogar noch mehr. „Hinzu kommen Medienkompetenz und interkulturelle Kompetenz, also die Möglichkeit, diverse Teams zum Beispiel auch über Ländergrenzen hinweg zu führen“, erklärt Lippold. Mit der räumlichen Distanz wird die Aufgabe, dem einzelnen Teammitglied gerecht zu werden, noch anspruchsvoller.
Der Aufgabenkatalog für Führungskräfte ist lang. Ohne Begeisterung und Engagement, sich Menschen zu widmen und sich neue Kompetenzen anzueignen, kann gutes Leadership nicht funktionieren. HR sollte durch den Dschungel der neuen Ansprüche navigieren und die Schlüsselkompetenzen, die New Leadership erfordert, vorleben. Dazu gehören übrigens auch diese weiteren: exzellente Englischkenntnisse und eine hohe Anglizismen-Toleranz. Den ohne die sind moderne Leader offensichtlich lost in translation.
Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Leadership. Das Heft können Sie hier bestellen.