Neuro-Leadership: Der Kampf in unserem Kopf

Leadership


Herr Ramming, mit welchen Problemen ringen Führungsverantwortliche?

Meine Erfahrung ist, dass sich Firmen und auch die Führungskräfte gegen den Wandel wehren. Sie halten an der Überzeugung fest, dass sie Stabilität bräuchten. Diese Menschen wollen nicht vorangehen, sondern tun alles dafür, das bestehende Fundament zu erhalten. Das ist das Grundproblem, das wir derzeit in Unternehmenhaben. Sie streben eine Stabilität an, die es eigentlich nicht gibt.

Längst wissen wir, dass unser Gehirn sich ständig verändert.
Neurowissenschaftler nennen diese Veränderbarkeit Neuroplastizität. Eigentlich ist unser Gehirn ideal dafür, mit dem immerwährenden Wandel umgehen zu können. Das Gehirn kann sich bis ins hohe Alter entwickeln. Auf dieser Erkenntnis fußt das Neuroleadership-Konzept. Wir müssen nur den Wandel als Normalzustand zu begreifen. Er ist die Stabilität von heute.

 

Weshalb streben wir nach Stabilität, obwohl unser Gehirn Lust auf Wandel hat?
Es herrschen zwei widersprüchliche Kräfte in unserem Gehirn: Einerseits haben wir das Potenzial uns weiterzuentwickeln, denn Entwicklung macht uns zufrieden und glücklich. Andererseits löst alles Ängste in uns aus, was den Anschein hat, gegen unsere Bedürfnisse wie Autonomie, Selbstverwirklichung oder Sicherheit zu arbeiten. Dann gehen wir sofort in den Widerstand und versuchen die Veränderung zu verhindern. Hinzu kommt, dass unser Gehirn danach strebt, den Energieverbrauch zu minimieren. Deshalb ist Nichtstun für uns oft so attraktiv. Wir sind jedoch der Situation nicht hilflos ausgeliefert, wir können zwischen den Zuständen wählen.

Wie können Führungskräfte mit diesen beiden Kräften, mit denen ihre Mitarbeiter kämpfen, umgehen?
Das ist die aktuelle Frage, mit der sich Führung auseinandersetzen muss: Wie können wir es schaffen, dass wir die Kräfte der Entwicklung forcieren? Die Entwicklung der Mitarbeiter muss also zu unserem wichtigsten Anliegen werden. Mitarbeiter haben jedoch alle unterschiedliche Voraussetzungen. Denn je nachdem, welches Mindset der Mensch in seiner Kindheit entwickelt hat, ist der eine eher ängstlich, während der andere lernen und sich entwickeln möchte.

Unter Mindset verstehen Sie Mentalität?
Ja, es geht darum, was wir tief in unserem Herzen für wahr halten. Die Psychologin Carol Dweck unterscheidet zwischen Fixed und Growth Mindset. Je nachdem, welche Mentalität man in sich trägt, fällt auch die jeweilige Leistung aus. Das ist das Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung.

Ist das Ziel von Neuroleadership, die Freude am Neuen zu reaktivieren?
Ich glaube, wir müssen dem Gehirn die Möglichkeit geben, genau diese Erfahrungen zu machen. Dazu muss man auf die Grundbedürfnisse wie Kontrolle, Humor oder Selbstverwirklichung der Mitarbeiter achten und diese befriedigen. Ein ganz wichtiges Grundbedürfnis in der heutigen Zeit ist übrigens jenes nach Beziehungen. In guten Beziehungen schütten wir alle dasBindungshormon Oxytocin aus. Es macht uns glücklich und mindert Ängste. Das ist auch auf der Arbeit so: Wenn Chefs dort eine gute Beziehung zu ihren Mitarbeitern pflegen, können sie eher mit Fehlern leben. Sie konzentrieren sich dann darauf, wie es das nächste Mal besser gemacht werden kann. Und das ist wichtig für die Entwicklung unseres Gehirns. Sind jedoch keine motivierenden Beziehungen da, aktiviert Angst den Kampf- oder Fluchtmodus im Gehirn und mindert die kognitive Leistungsfähigkeit.

Was also sollten Führungskräfte und Personaler tun?
Sie sollten mehr die intrinsischen Motivationsfaktoren stimulieren, anstatt sich um Geld und Boni zu kümmern. Sie sollten mehr Gefühl zulassen! Führung ist derzeit oft unpersönlich und dissoziiert. Beziehungen im Arbeitskontext müssen nicht sachlich-rational behandelt und strukturiert werden. Menschen haben den Wunsch nach Weiterentwicklung, einem sinnvollen Engagement, Autonomie und Spaß. Sie brauchen Herausforderungen, die sie meistern können. Bewältigen Mitarbeiter eine neue Aufgabe, werden Dopamin und Endorphine ausgeschüttet. Sie machen uns zufrieden und glücklich. Man muss eine Umgebung schaffen, in der diese Faktoren stimuliert und entwickelt werden können.

Die Realität jedoch …
… sieht anders aus. Alle scheinen immer nur gestresst zu sein. Der Gegenspieler von Zufriedenheit ist das Stresshormon Cortisol. Im Normalzustand macht uns dieses Hormon leistungsbereit, doch im konstanten Stresszustand wird es im Übermaß ausgeschüttet und es werden sogar Nervenzellen abgebaut. Stresszustände werden immer dann ausgelöst, wenn wir uns bedroht fühlen – wenn also die Bedürfnisse nach Beziehungen, Selbstverwirklichung und Kontrolle über unser Leben nicht gegeben sind. Wir können eine bestimmte Menge an Stress gut vertragen. Das Problem ist, wenn wir unaufhörlich gestresst sind, steuern wir auf einen Burn-out zu, ohne dass wir es realisieren. Die Tragik daran ist, dass wir auch den Leistungsabfall, den wir in dem gestressten Zustand haben, häufig gar nicht bemerken.

Seit jeher wird versucht das Wesen der Motivation zu entschlüsseln. Was kann Neuroleadership dazu beitragen?
Wir wissen schon seit zehn bis 20 Jahren, dass Geld kein großer Motivator ist. Trotzdem haben wir in Deutschland ein ausgeklügeltes Belohnungssystem. Geld ist natürlich dazu da, dass sich Mitarbeiter fair behandelt fühlen, und es stellt einigermaßen zufrieden. Neuroleadership zeigt, dass es bei der Motivation jedoch um intrinsische Faktoren wie das Autonomiebedürfnis, Sicherheit, Beziehungen oder Selbstwerterhöhung geht. Dazu brauchen wir einen neuen Managementstil, der diesen Bedürfnissen Raum gibt.

Mit welchem Anliegen kommen Führungskräfte zu Ihnen?
Sie haben Mitarbeiter, die in besagtem gestresstem Zustand sind. Die Kommunikation funktioniert nicht, das Verständnis füreinander ist gering und eine Verantwortungsübernahme fehlt. Auch die Führungskräfte selbst sind gestresst und halten das für normal. Sie argumentieren: „Wir haben aber auch keine andere Möglichkeit, als gestresst zu sein, schließlich haben wir Deadlines, viele Aufgaben zu erfüllen und viel Druck von oben.“

Was entgegnen Sie dann?
Dass wir an der Situation selten etwasändern können, aber an unserem Mindset schon. Führungskräfte sollten ihren Mitarbeitern den Sinn der Arbeit vor Augen führen. Sie müssen die Stärken ihrer Mitarbeiter erkennen, die Aufgaben gemeinsam aufteilen und ihnen Herausforderungen bieten. Ein Chef, der Anweisungen gibt, untergräbt das Bedürfnis nach Autonomie in uns. Damit killt man einen Großteil der Motivation. Jeder Chef sollte seine eigenen Strategien entwickeln, die Bedürfnisse der Mitarbeiter zu achten. Wir brauchen keine perfekten Chefs, sondern Chefs, die sich mit den Mitarbeitern wirklich auseinandersetzen. Die Tools dazu sind alle da!

Welche wären das?
Zielvereinbarungen und Entwicklungsgespräche sind tolle Möglichkeiten, nur werden sie völlig falsch angewendet. Eine Zielvereinbarung läuft üblicherweise so ab: Die Führungskraft denkt sich ein paar Ziele aus und drückt diese dann dem Mitarbeiter auf. Und der weiß nicht genau, wie er damit umgehen soll, und sagt Ja zu den Zielen, weil er machen muss, was angeordnet wird. Dabei könnte man das Tool nutzen, um sich wirklich mit dem Mitarbeiter tiefergehend auseinanderzusetzen. Dazu könnte man herausfinden, wie sich der Mitarbeiter entwickeln will, diskutieren, was er erreicht hat, analysieren, wie er Hürden überwunden hat. Man könnte besprechen, wie man Stärken fördern kann und welche Ziele die sinnvollsten sein können.

Die Regeln für gehirngerechtes Führen klingen wie intuitives Wissen: Herausforderungen schaffen, Wissen vernetzen, eine Fehlerkultur leben und für positive Erfahrungen sorgen. Dient Neuroleadership eher dazu, Führungskräfte durch neurowissenschaftliches Faktenwissen davon zu überzeugen, ihre Soft Skills zu überdenken?
Im Grunde schon, denn viele können Entwicklungsmöglichkeiten nicht sehen. Gerade rational orientierte Manager aus Produktionsbetrieben sind Soft Skills gegenüber nicht besonders aufgeschlossen und sie wollen auch nicht über sie nachdenken. Wenn ich ihnen das Gehirn faktenbasiert und nicht psychologisch erkläre, wird es für sie greifbarer und sie werden offener. Neurowissenschaftliche Erkenntnisse kann man gut in Zahlen, Daten und Fakten darstellen. Neuroleadership zeigt außerdem, welche Umgebung unser Gehirn braucht, um sich zu entwickeln. Wird man für Fehler getadelt, haben Mitarbeiter keine Lust mehr, sich zu entwickeln.

Haben Sie den Eindruck, Fehler werden aktuell immer noch streng geahndet?
Ja, große Unternehmen versuchen verzweifelt, das agile Arbeiten, das viele Start-ups schon beherrschen, einzuführen, und sehen gar nicht, dass nicht ein Prozess geändert werden muss, sondern dass ein ganz anderes Mindset in den Köpfen der Führungsriege nötig ist. Nullfehlerkultur heißt nicht, dass man über Fehler spricht, sondern dass es sie de facto nicht gibt. Es gibt nur Entwicklungsmöglichkeiten, man spricht über die Zukunft, nicht über die Vergangenheit. Dabei werden ganz andere Netzwerke im Kopf aktiviert. Spricht man über Fehler in der Vergangenheit, entsteht Stress. Spricht man über die Zukunft und verfolgt eingemeinsames Ziel, zu dem jeder seinen Teil beitragen kann, entsteht Motivation und Glück. Doch viele Führungskräfte können sich ihr vergangenes Fehlverhalten kaum eingestehen. Ich glaube, diese Veränderung löst große Ängste in ihnen aus, weil sie zugeben müssten, jahrelang nicht optimal gehandelt zu haben.

Wie lässt sich denn das Mindset eines Menschen beeinflussen?
So eine Veränderung entwickelt sich natürlich nur schleichend. Neuroleadership zeigt, dass wir immer lernen können, allerdings tun wir das eben langsam. DerWille spielt eine Rolle, genauso wie gute Vorbilder, eine stimulierende Umgebung und die Beschäftigung mit diesen Themen. Ich glaube, damit sich ein Unternehmen wandelt, muss sich zuallererst der Vorstand geistig flexibel zeigen, nicht die Personalabteilung. Wenn der Kopf des Unternehmens es vormacht, dann kann HR dabei unterstützen,die Veränderungen an die Mitarbeiter weiterzugeben.

Es gibt auch den Fall, dass Mitarbeiter schweigen, wenn sie danach gefragt werden, was sich ändern sollte.
Genau, sie sind dann in dem Zustand der Angst und Vermeidung. Sie wissen, sie könnten etwas sagen, haben aber in den vergangenen zehn Jahren in der Firma gelernt, dass sie dafür abgekanzelt werden. Also sagen sie lieber nichts.

Wie kann man den Mitarbeitern die Angst nehmen, sich zu entwickeln?
Angst nehmen sie Menschen nur, indem sie positive Erfahrungen schaffen. Sie müssen Möglichkeiten bieten, dass Menschen sich einbringen können mit Ideen, Leistung und auch Bedenken. Wenn sie dann ernst genommen werden, erfahren sie, dass ihre Stimme wichtig ist. Das dauert aber mehrere Jahre. Die meisten denken, Change hat sich in zwei Monaten erledigt. Dabei ist es ein ständiger Prozess.

Über welche Erkenntnis aus der neurowissenschaftlichen Forschung waren Sie am meisten verblüfft?
Die Erkenntnis, dass wir alle Genies werden können, wenn wir wollen. Wir unterschätzen kolossal, wie stark sich unser Gehirn entwickeln kann. Es gibt Gedächtnisexperten, die fantastische Hirnleistungen vollbringen, nicht weil sie talentiert sind, sondern weil sie ihr Gehirn trainieren. Man lernt im Alter zwar langsamer, aber nicht weniger. Ich bin über 50 Jahre alt und habe trotzdem Sachen gelernt, von denen ich dachte: Das schaffst du nie! Witze ohne peinliche Pausen wiederzugeben zum Beispiel, besondere Gitarrenriffs zu spielen oder das Content-Management-System WordPress zu handhaben. Momentan lerne ich Italienisch und habe tatsächlich schon mein erstes Buch in der Fremdsprache gelesen. Und das, obwohl ich früher in der Schule wirklich kein Sprachengenie war.

 

Markus Ramming © BLENDE11 FOTOGRAFEN

Zur Person:
Markus Ramming ist promovierter Neurobiologe und arbeitet seit 2008 als Leadership-Coach in Bayern. Nach seiner Promotion am Max-Planck-Institut für Hirnforschung in Frankfurt hatte er verschiedene Führungspositionen in der pharmazeutischen Industrie inne.

Was ist Neuroleadership?

Neuroleadership ist eine interdisziplinäre Methode, die neurowissenschaftliche Erkenntnisse in bestehende Führungsstrategien integriert. Es handelt sich somit nicht um einen eigenständigen Führungsansatz, sondern eine Maßnahme, Mitarbeiterverhalten besser zu verstehen, um die Führungsarbeit zu optimieren. Neuroleadership konzentriert sich dabei auf die Mitarbeiterführung, aber auch auf die Gestaltung der Arbeitsumwelt.

Der australische Unternehmensberater David Rock und der Neurowissenschaftler Jeffrey Schwartz prägten den Begriff 2006 in einem Fachartikel. Rock entwickelte 2008 das SCARF-Modell, demzufolge das menschliche Gehirn danach strebe, Bedrohungen zu minimieren und Belohnungen zu maximieren. Er identifizierte fünf Grundbedürfnisse, die Chefs beachten sollten: Status, Sicherheit, Autonomie, Verbundenheit und Gerechtigkeit. Ein Verstoß gegen diese Prinzipien aktiviere das Bedrohungssystem bei Mitarbeitern, achtsame Führung hingegen stimuliere das Belohnungssystem. In Deutschland hat der Bonner Hirnforscher Christian Elger das erste Buch über Neuroleadership geschrieben. Er beschreibt darin vier Systeme, aus denen er Verhaltensregeln ableitet: das Belohnungssystem, das emotionale System, das Gedächtnissystem und das Entscheidungssystem.

Kritiker bemängeln, dass Neuroleadership-Theorien keine neuen Erkenntnisse hervorbringen. Auch fehle es an empirischen Überprüfungen. Der Neurobiologe Gerald Hüther nannte hingegen gemeinsam mit Sebastian Purps-Pardigol zahlreiche Beispiele, wie sich Firmen verändern können, indem sie sich intensiver mit den Belangen ihrer Mitarbeiter auseinandersetzen. Hüther plädiert für eine Kultur des Kümmerns und stellte Regeln für die Idee eines „Supportive Leadership“ auf. Aufgaben der Führungskraft seien demnach, Mitarbeiter zu ermutigen, sich auf Herausforderungen einzulassen, sie auf der Gefühlsebene anzusprechen und für positive Erfahrungen zu sorgen.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Neuro. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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