Von Vorbildern lernen

Leadership

Ihnen fällt spontan niemand ein, den Sie als Ihr Vorbild bezeichnen würden? Genau da liegt ein Problem. Um von Leitfiguren profitieren zu können, sollten wir unsere Erwartungen an sie überdenken. Fünf zentrale Erkenntnisse über Vorbilder.

So mutig und stark sein wie Pippi Langstrumpf. Sich so schön kleiden wie Elsa aus „Die Eiskönigin“. So gut Gitarre spielen können wie Papa. Meine Nichte zaudert nicht lange und kann, gefragt nach ihren Vorbildern, gleich eine ganze Liste herunterbeten. Runa ist vier Jahre alt und weiß genau, welche Fixsterne ihr Orientierung bieten können und dürfen. Währenddessen schaue ich im Büro erst einmal in ratlose Gesichter. „Ein Vorbild? Nee, habe ich nicht so wirklich.“ Zögern, Grübeln, Kopfschütteln.

+++ Dieser Beitrag ist zuerst in unserem Magazin Human Resources Manager erschienen. Eine Übersicht der Ausgaben erhalten Sie hier.+++

Seien wir ehrlich: Erwachsene nach ihren Leitfiguren zu fragen, bringt meist wenig Aufregendes mit sich. Eine durchschnittliche Ausbeute: Viermal Achselzucken, zweimal Gandhi, einmal Mutter Teresa – Entschuldigung, da bin ich kurz eingenickt. So groß die Verdienste der Genannten sein mögen, eine tatsächliche Handlungsanregung für den Alltag geben sie den wenigsten von uns. Stellt sich die Frage: Haben wir etwa das Vorbildhaben verlernt? Brauchen wir ein besseres Orientierungsmanagement?

Und dennoch taucht in Publikationen der vergangenen Jahre immer wieder die These auf, sich an Vorbilder zu halten sei en vogue wie nie. „Im Moment hat alles Renaissance, was Orientierung gibt. Weil wir in einer Zeit leben, in der sich die Welt in einer Schnelligkeit dreht, dass den Menschen schwindelig wird. Weil Selbstverständlichkeiten aufbrechen und es schwierig wird, den rasanten Entwicklungen zu folgen. Ich könnte mir vorstellen, dass in solchen Zeiten Vorbilder – die es die ganze Zeit ja gibt – wieder bewusster werden“, sagt Psychologin und Karrierecoach Brigitte Scheidt.

Um der Sehnsucht nach dem Vorbild ­näher zu kommen, habe ich aus Studien, ­Literatur und Psychologie folgende fünf ­Erkenntnisse ­destilliert.

Idole, Helden und Mentoren sind nicht ­unbedingt Vorbilder

Ein Vorbild ist jemand, der eine Fähigkeit oder Haltung hat, der man nacheifert, dem man nach dem Prinzip „Lernen am Modell“ folgen kann. Während Kinder sich in der Regel ganz selbstverständlich an den Eltern orientieren, reflektieren wir im Verlauf unserer Entwicklung stärker, was uns tatsächlich erstrebenswert erscheint. „Vorbilder motivieren zu Handlungen“, sagt Psychologin Scheidt. Stars, zum Beispiel aus Film, Sport oder Musik, fungieren daher nicht zwangsläufig als Vorbilder für ihre Anhänger. Ein Idol werde in der Regel überhöht, stehe als leuchtender Stern über allem. „Ein solcher Personenkult – den wir ja auch von Heiligenbildern oder aus Diktaturen kennen – bedient etwas anderes.“ Schließlich seien die Verehrten unerreichbar. Um Vorbilder handelt es sich dann, wenn sich ein Teenager jeden Tag in Gesang oder Gitarrenspiel übt, um dem Lieblingsmusiker nachzueifern.

Helden hingegen stehen eher für Werte. Scheidt plädiert für eine schärfere Trennung der Begriffe: „In dem Sinne wächst ein Held in einer Situation über sich selbst hinaus. Er ist bereit, für Überzeugungen und Ideale wie Menschenrechte und Gerechtigkeit unter anderem das eigene Leben, die Freiheit sowie die Gesundheit zu riskieren.“ Bei Vorbildern gehe es aber um Fähigkeiten – und vielleicht auch noch um Haltungen. „Jemand kann tolle Reden halten. Oder Mitarbeiter begeistern. Empathisch sein und trotzdem bei sich bleiben. Das ist ein Vorbild – aber kein Held.“ Das bedeutet im Umkehrschluss natürlich nicht, dass ein Vorbild nicht auch Werte vertreten kann.

Auch ein Mentor, aufgrund seines Wissens und seiner Autorität ein Ratgeber, muss nicht zwangsläufig Vorbild sein. Zwar kann man in Mentoring-Programmen von Unternehmen jemanden vorgesetzt bekommen, jemanden zum Vorbild erklären können wir aber nur selbst.

Wir brauchen nicht ein Vorbild, wir brauchen viele

Ein Grund, warum auf die Frage nach Vorbildern oft langes Schweigen folgt, ist, dass nach der einen Person, dem ultimativen Komplettpaket aus Moral und Talent, gesucht wird. Doch wir werden niemanden finden, dem wir in jeder Beziehung nacheifern wollen. Schließlich will auch niemand von uns der Abklatsch, das „Nachbild“ eines anderen sein.

„Das Vorbild ist nie der perfekte empathische Mensch, der in allem reif und gestanden reagieren kann. Heutzutage verstehe ich Vorbilder partiell, bezogen auf bestimmte Fähigkeiten, bestimmte Haltungen“, sagt Brigitte Scheidt. „Martin Luther King ist für viele in seinem Engagement für Gerechtigkeit sicher ein Vorbild und er hatte auch heldenhafte Züge. Aber er war, soweit ich weiß, kein treuer Ehemann.“

So vielfältig wie die Bereiche, in denen wir Vorbilder pflegen sollten, ist auch das Spektrum ihrer Funktionen: Sie können als Mutmacher fungieren, als Inspirationsquelle oder auch als Weißabgleich. Das hat auch mit dem Abstraktionsgrad dessen zu tun, was ich erreichen möchte. Es gibt Makrovorbilder nach dem Prinzip „Ich möchte mal unternehmerisch so erfolgreich sein wie Mark Zuckerberg“ und solche auf einer Mikroebene: „Ich möchte so gute Pressetexte schreiben wie mein Chef“.

Dass es eher kontraproduktiv wirkt, wenn Vorbilder uns allzu perfekt erscheinen, zeigt eine Studie der Psychologen Lauren C. Howe und Benoît Monin: Wenn Ärzte – entsprechend ihrer empfundenen Vorbildfunktion – ihre eigene Fitness zu sehr betonen, verschrecken sie damit Patienten (vor allem solche mit Übergewicht). Der Grund: Diese befürchten, gering geschätzt, für faul gehalten zu werden. Wenn unser Vorbild souverän genug ist, über Schwächen und Schwierigkeiten zu sprechen, fühlen wir uns ihm näher.

Influencer sind ein neuer ­Vorbild-Hybrid

Neue Medien schaffen neue Vorbilder. Das merken wir deutlich, wenn wir uns anschauen, welche Leitfiguren die Generation Y auserkoren hat. Immer häufiger werden (­Video-)Blogger, Influencer genannt. Die Faszination der neuen Vorbilder lässt sich aus der Kombination aus Prominenz einerseits und gefühlter Nahbarkeit auf der anderen Seite erklären, die einen neuartigen Hybrid bildet: Ich identifiziere mich mit jemandem, dessen (scheinbaren) Alltag ich miterlebe, zugleich bewundere ich den Starappeal der Persönlichkeit. Er präsentiert sich mir, wie ich gerne sein möchte, und wirkt dabei sehr vertraut. Es findet eine Identifikation statt.

„Das kollektive Schwärmen für jemanden ist etwas, das im Adoleszenzprozess seit jeher passiert“, sagt Brigitte Scheidt. Während bis vor einigen Jahren bei den meisten Stars das Können im Vordergrund stand, verschiebt sich das als nachahmungswürdig betrachtete Talent in den Sozialen Medien mehr in Richtung Selbstdarstellung. Die Psychologin hält das zunächst für wenig problematisch: „Es gibt heute vielfach ein Darstellungsmuss und einige stellen sich mehr oder weniger gekonnt an die Spitze dieser Bewegung. Wer sich ihnen anschließt, gehört in der Peergroup dazu, und die meisten werden lernen, dass Können und Leistung auf die Dauer mehr für sie bringen.“

Vorbildhaftes Verhalten hat nichts mit ethischer Güte zu tun

„Ich möchte kein Vorbild sein“, sagte die Sängerin Katy Perry vor einiger Zeit und schlug damit in eine altbekannte Kerbe. Immer wieder betonen Prominente, sie wollten die Verantwortung nicht, die ihnen allein aufgrund der Tatsache aufgebürdet wird, dass es Menschen gibt, die sie bewundern und am liebsten sein wollen wie sie. Natürlich lässt sich niemandem das Recht abstreiten, mal unkluge Entscheidungen zu treffen, unmoralisch oder beschämend zu handeln. Delikat wird es allerdings, wenn die Person aufgrund ihres Einflusses von Unternehmen oder Organisationen zu Vorbild-Zwecken eingespannt wurde und ihren Rollenzuschreibungen von außen nicht mehr genügt.

Grundsätzlich ist der Begriff des Vorbilds aber erst einmal ganz neutral und ohne moralischen Anspruch. Auch ist nicht jedes Vorbild entwicklungsfördernd. Das beweist zum Beispiel der vielzitierte Werther-Effekt, demzufolge der mediale Diskurs über Selbstmorde die Suizidrate in die Höhe treibt. So fand der junge Werther, der in Goethes Roman den Freitod suchte, im 18. Jahrhundert tatsächlich zahlreiche Nachahmungstäter. Die Mutter eines von ihnen klagte, so zitiert Kulturwissenschaftler Thomas Macho in seiner Abhandlung „Vorbilder“, „Goethe sogar nach dessen Tod als Schuldigen an: ‚Auch mein Sohn hatte mehrere Stellen im Werther angestrichen. Von euch wird Gott Rechenschaft fordern über die Anwendung eurer Talente.‘“

Vom persönlichen Vorbild-Management profitieren

Coach Brigitte Scheidt bittet ihre Klienten stets darum, Vorbilder zu identifizieren, ob aus der Literatur, dem öffentlichen Leben oder dem privaten Umfeld. Zentral sei die Frage: Was kann der Benannte, was ich gern können möchte? Welche Eigenschaften oder Haltungen sprechen mich an? Was verbinde ich damit? Aus diesen und ähnlichen Fragen schält sich heraus, wohin jemand sich entwickeln möchte.

Unsere Vorbilder verraten viel über uns. Inwiefern es realistisch ist, dass wir uns ihnen in den geschätzten Fähigkeiten annähern, lässt sich natürlich erst im nächsten Schritt herausfinden. „Wenn Sie mir drei Vorbilder nennen, weiß ich eine Menge über Ihre Sehnsüchte – nicht aber über Ihre Möglichkeiten“, sagt die Psychologin.

Haben Sie, liebe Leser, sich in Situationen, in denen Sie nicht weiterwussten, schon einmal gefragt: Was würde mein Kollege in dieser Situation tun? Was würde meine ehemalige Chefin jetzt sagen? Dann haben Sie eine Methode angewandt, die auf Vladimir Raikov zurückgeht.

Der russische Psychotherapeut erlangte dadurch Berühmtheit, dass er Menschen in Hypnose versetzte und ihnen suggerierte, sie seien berühmte Genies, beispielsweise Albert Einstein. Anschließend bekamen sie eine Aufgabe – und sie entwickelten tatsächlich auffallend kluge Lösungswege. Es kann aber auch jenseits hypnotischer Sphären hilfreich sein, sich gedanklich jemanden an die Seite zu stellen, der den Blick öffnet. Denn je mehr Ideen wir davon haben, welches Verhalten in einer Situation möglich ist, desto größer ist unsere Freiheit zu handeln.

Ein einzelner Gedanke

Das Verhalten eines anderen nachzuahmen, klingt einfach, ist aber harte Arbeit und kostet zuweilen Überwindung. Nehmen wir uns jemanden zum Vorbild und erklären uns bereit, etwas Neues zu lernen, indem wir ihm nacheifere, bedeutet das auch, dass wir unser eigenes Verhalten scharf überprüfen müssen. Das erfordert Hartnäckigkeit.

Manchmal reicht aber schon ein einzelner Gedanke, den man sich beispielhaft vor Augen führt und an dem man sich festhalten kann. Wie der von Autorin J.K. Rowling. Sie handelte sich mehr als ein Dutzend Ablehnungen ein, bevor ein Verlag bereit war, „Harry Potter“ zu veröffentlichen. Rowling sagt, sie hätte nicht aufgegeben, bis sie von jedem einzelnen Verleger eine Rückmeldung bekommen hätte. „Diesen Gedanken kann man zum Vorbild dafür nehmen, an sich selbst zu glauben, durchzuhalten“, sagt Brigitte Scheidt. Statt den Himmel nach dem einen Stern abzusuchen, der alles überstrahlt und in dessen Glanz wir baden, sollten wir lieber auf die kleinen Lichter achtgeben, die einzelne Wegabschnitte beleuchten.

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Anne Hünninghaus, Foto: Jana Legler

Anne Hünninghaus

Anne Hünninghaus ist Journalistin und Redakteurin bei Wortwert. Sie war von Januar bis Oktober 2019 Chefredakteurin i. V. des Magazins Human Resources Manager. Zuvor arbeitete die Kultur- und Politikwissenschaftlerin als Redakteurin für die Magazine politik&kommunikation und pressesprecher (heute KOM).

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