Wenn die Schmerzen einfach nicht aufhören

MENTAL BREAK(DOWN)

Seitdem ich mir mein Leben unfreiwillig mit Klaus – meinem Tinnitus – teile, habe ich viel mehr dazubekommen, als ich jemals dachte. Schon vorher kannte ich allerdings verschiedene körperliche und psychosomatische Beschwerden, wie Verspannungen im Nacken, Hals und Kiefer – auch als Jugendliche hatte ich bereits lange mit chronischen Kopf- und Rückenschmerzen zu tun. Ich dachte immer, das würde irgendwann besser werden, aber nein, ich musste vielmehr lernen, konstruktiv damit zu leben.

Chronische Schmerzen und Betroffenheit

In Deutschland sind rund zehn bis zwanzig Prozent der Menschen von chronischen Schmerzen betroffen. Am häufigsten sind Rückschmerzen, Kopfschmerzen und Migräne, Gelenkschmerzen sowie das in unterschiedlichen Körperregionen schmerzverursachende Fibromylagiesyndrom vertreten.

Als chronische Schmerzen sind dauerhaft anhaltende Schmerzen klassifiziert, auch wenn die auslösende Ursache (zum Beispiel eine Verletzung oder ein Trauma) bereits abgeheilt ist. Als chronisch werden sie eingeordnet, sobald der Schmerz länger als drei Monate anhält und/oder die als normal angesehene Schmerzdauer überschritten wird – unter diesen drei Monaten werden die Schmerzen als akut angesehen.

Wenn ein akuter Schmerz über einen längeren Zeitraum anhält, kommt es auf der neuronalen Ebene zu einer Veränderung der schmerzverarbeitenden Systeme: Das System im Körper erzeugt selbst die Schmerzsignale. Die Empfindlichkeit gegenüber dem Schmerz wird gesteigert. Während das Gehirn normalerweise bei gesunder Haut mehrfach nacheinander auftretende Schmerzreize reduziert (wenn zum Beispiel zehnmal mit einer Nadel in die Haut gestochen wird), ist das bei chronischen Schmerzen umgekehrt: der letzte Schmerzreiz wird stärker wahrgenommen. Auslöser können sowohl organisch – zum Beispiel durch Verletzungen, jedoch auch nicht-organisch, also durch psychische Erkrankungen, sein. Die häufigste Ursache ist in Deutschland übrigens die Erkrankung des Bewegungsapparates, was sich zum Beispiel in Rückenschmerzen verdeutlicht. Das trifft auf ungefähr zehn Prozent der Gesamtbevölkerung in Deutschland – und auch auf mich, als Bürostuhlabhängige – zu.

Nachweis und Behandlungsmöglichkeiten

Wenn der Verdacht auf chronische Schmerzen besteht, ist es in jedem Fall ratsam, die eigenen Gewohnheiten zu checken (beispielsweise, wie in meinem Fall, die Schreibtischmöbel zu optimieren). Wenn sich danach nichts bessert, führt der Gang meist in die hausärztliche Praxis. Oft endet dieser Weg aber nicht dort: Chronische Schmerzen sind eine gefundene Einkommensquelle für spezialisierte fachärztliche und (Schmerz-)Praxen. Als Privatpatientin kurvte mein Weg in endlosen Spiralen weiter von orthopädischen Fachpraxen, Schmerzambulanzen des Uniklinikums bis in psychiatrische Nervenmessungen. Denn: Chronische Schmerzen nachzuweisen, ist tricky. Die Quantitative Sensorische Testung (QST) analysiert und prüft zwar die Hautsensibilität, also ob üblicherweise nicht-schmerzhafte Reize als schmerzhaft wahrgenommen werden. Es gibt jedoch nicht unbedingt eine einheitliche Behandlungsmöglichkeit, sondern eher individuelle Behandlungskonzepte, welche entweder medikamentös (dauerhaft oder nach Bedarf) oder nicht-medikamentös sind. Dazu zählen klassische schulmedizinische Ansätze wie medikamentöse (schmerz-/entzündungshemmende) Präparate, physikalische Therapie oder Physiotherapie. Optimalerweise wird dies allerdings kombiniert mit spezieller Psychotherapie (kognitiver Verhaltenstherapie) oder Psychosomatik (teilweise mit Psychopharmaka, die die Schmerzverarbeitung beeinflussen).

Diese Kombination findet sich auch in modernen multimodalen Schmerztherapien: Hier wird angestrebt, die körperlichen und seelischen Komponenten gleichermaßen zu behandeln. Es kommen dabei auch elektronische Schmerztagebücher oder Schmerz-Apps zum Einsatz, um die Kontinuität der Schmerzen und Auffälligkeiten zu dokumentieren und das als Verlaufs- und/oder Erfolgsprotokoll zu nutzen. Gerade Schmerztagebücher waren für mich das Mittel der Wahl, mit denen ich lernte, meine Nackenschmerzen zu monitoren und zu entkatastrophisieren. Ich erkannte Regularien, zum Beispiel: nach zwei schlechten Tagen folgt auf jeden Fall wieder ein guter – das gibt Hoffnung!

Gibt es ein Ende?

Nach über 20 Jahren als Schmerzpatientin sage ich ganz klar: Das hängt tatsächlich zu einem Großteil von der Art der Schmerzen und der eigenen Einstellung dazu ab. You never know! Chronische Schmerzen sind definitiv eine seelische Belastung, sowohl als Ursache als auch als Folge. Das zeigt sich bei der anhaltenden und messbaren Senkung der Schmerzwelle.

Zudem kommt es teilweise bei Menschen mit chronischen Schmerzen zu depressiven Verstimmungen, Tablettenabhängigkeiten oder Alkoholismus. Hier beginnt ein Kreislauf, auf den – auch das Umfeld on the job  – unbedingt achten sollte: In meinem Fall zog ich mich oft zurück, da der Nacken schon wieder wehtat, dadurch gab es weniger Außenleben, das Innenleben (und damit der Schmerz) wurden immer stärker. Das beeinflusst natürlich auch das  Zusammenleben und -arbeiten mit anderen Menschen: 39 Prozent der Betroffenen gehen davon aus, dass ihre Schmerzen einen negativen Einfluss auf die Beziehung zu Familie und befreundeten Personen haben; 21 Prozent sehen sich in gesellschaftlicher Isolation. Das muss aber so nicht sein und das möchte ich ganz klar sagen – die Frage, wie Personen mit chronischen Schmerzen umgehen, beeinflusst auch deren Materialisation bei Betroffenen und beim Umfeld. Gerade in Unternehmen und anderen Organisationen wird bereits einiges an Maßnahmen im Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) durchgeführt, aber es sollte auch im eigenen Team nochmals kritisch betrachtet werden.

Chronische Schmerzen und der Arbeitsalltag

Es kann verschiedene Ursachen und Anzeichen für chronische Schmerzen geben, daher gilt es, wachsam zu sein, für sich selbst und andere:

  • Beeinträchtigung von Körperregionen, durch wiederholte falsche Bewegungsabläufe, etwa durch schweres Heben oder Beugung des Nackens, dauerndes Telefonieren oder auf den Bildschirm starren
  • langes Anhalten einer einzelnen Pose, zum Beispiel beim Sitzen, Stehen (daher sind auch reine Stehpulte keine Lösung, alle 60 Minuten gilt es, die Haltung zu ändern!)
  • belastendes Arbeitsumfeld, durch Probleme mit dem Team oder Mobbing – beispielsweise Personen verlassen oft das Büro, suchen die Toiletten auf oder verhalten sich anders als zuvor
  • private Belastungen, wie dauernde Anrufe, Termine, bei denen Betroffene das Office verlassen
  • Schlafprobleme oder mangelnder Ausgleich – Kaffeekonsum und Schmerztabletteneinnahme monitoren!
  • Unzufriedenheit mit Beruf, Arbeit und Leben führen häufiger zu Krankschreibungen
  • Vieles davon ist harmlos und kommt auch bei allen Menschen vor, aber ab einer gewissen Intensität oder Dauer sind Führungskräfte und Teammitglieder gefragt, zu handeln. In einem Coaching staunte ich nicht schlecht, als die Coachee sagte: Ja, das haben wir uns bei der schon gedacht – Burnout. Niemand hatte die Kollegin davor angesprochen. So weit muss es nicht kommen. Ebenso, wie die Ursachen für chronische Schmerzen unterschiedlich sein können, gibt es auch verschiedene Behandlungswege. Um ein geeignetes Arbeitsumfeld zu schaffen, kann mit medizinischem Fachpersonal, wie Therapeutinnen und Ärzten ein Plan erarbeitet werden. Dies kann auf individueller Ebene geschehen, aber auch mit dem Arbeitgeber abgesprochen werden. Denn was Einfluss auf eine Person hatte, kann auch weitere Personen betreffen.

BGM-Maßnahmen sollten daher unbedingt beinhalten:

  • rückenfreundliche Arbeitsplätze
  • Tätigkeiten ausüben, die den Körper weniger belasten
  • Abwechslung zwischen sitzenden Tätigkeiten und Bewegung
  • Schichten beibehalten und wenig wechseln (Migräneprophylaxe)
  • geringere Arbeitszeit
  • Abstand zu Teammitgliedern nehmen, wenn es häufige Probleme mit ihnen gibt (zum Beispiel Versetzung in eine andere Abteilung)
  • Und in Fällen, wenn der derzeitige Arbeitsplatz gar nicht mehr funktioniert: einen Unternehmenswechsel oder auch eine Umschulung in Betracht ziehen

Da es einen Zusammenhang zwischen chronischen Schmerzen und der Psyche gibt, ist das komplette Aufgeben der Erwerbstätigkeit nicht zu empfehlen. Mit dem Verlust einer Beschäftigung fehlt es an einer Tagesstruktur, sozialem Kontakt und Ablenkung, was wiederum zu einer Steigerung der Schmerzen führen kann. Auch das habe ich an mir selbst gemerkt. In Phasen, in denen ich mich komplett aus der Firma gezogen habe, ging es mir oft schlechter als bei einer moderaten Belastung. In schweren Fällen muss aber natürlich auch über zeitweise bis dauerhafte Arbeitsunfähigkeit nachgedacht werden.

Mein Fazit:

Der Umgang mit chronischen Schmerzen ist sehr individuell und manchmal auch wirklich frustrierend, da niemand weiß, wann oder ob es endet. Es gibt Momente, in denen ich nicht in meiner Kraft bin und ganz klar Ruhe brauche. Diese nehme ich mir dann. Aber eben nicht länger als ein paar Tage bis maximal zwei Monate. Als Selbstständige ist das nicht leicht, daher bin ich sehr froh, dass ich genügend Kraft hatte, mir ein Team aufzubauen. Mir war es immer wichtig, dass das Arbeitsumfeld Verständnis zeigt. Das entlastet die betroffenen Personen, da sie sich nicht darum sorgen müssen, dass andere denken, sie würden simulieren. Und genau da zeigt sich sehr klar, wie wichtig ein verständnisvolles Umfeld ist, welches unterstützen kann und will.

Das Wissen über Schmerzen hilft mir ebenso enorm. Chronische Schmerzen verschwinden nicht von allein. Auch wenn eine Behandlung in den meisten Fällen möglich ist, so ist davon auszugehen, dass es nicht zu einem schnellen oder kompletten Rückgang von chronischen Schmerzerkrankungen kommt. Daher ist mein Weg, sie als eine konstruktive Wohngemeinschaft zu betrachten. Die Schmerzen sagen mir, wann es zu viel ist. Dann höre ich auf sie.

Ich habe mir regelmäßig Unterstützung in der Psychotherapie gesucht, gehe zur Physiotherapie, Massage oder Akkupunktur. Ich habe zudem (endlich!) meine Arbeitszeiten reduziert und viele Aufgaben an mein Team abgegeben, damit ich, soweit es geht, entlastet bin. Manchmal laufe ich mit meinem Wärmekissen im Büro rum. Manchmal kann ich keine Video-Calls machen, weil mein Nacken nicht mitmacht – dann muss das gute alte Telefon her. Manchmal muss ich Termine um eine Woche verschieben, weil es mir zu schlecht geht. Aber ich habe gelernt: Das alles geht. Ich habe mein Notfall-Set an Schmerztabletten, Tigerbalsam und Triggerpunkte-Rolle immer parat, für den Worst Case.

Es liegt sehr viel an mir selbst: Wie sehr bin ich bereit, das zu tun, was ich brauche und mir selbst zu helfen – und wie weit bin ich dann die Abweichung von der Norm – da ich das sowieso bin, ist es mir inzwischen egal. Hallo Massageball!

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Simone Burel, Geschäftsführerin der LUB GmbH - Linguistische Unternehmensberatung

Simone Burel

Dr. Simone Burel ist Geschäftsführerin der LUB – Linguistische Unternehmensberatung, promovierte Sprachwissenschaftlerin und (Fachbuch-)Autorin. Ihre Arbeiten zu Sprache, Gender Diversity & Unternehmenskommunikation wurden bereits mehrfach ausgezeichnet. Mit der neuen Marke Diversity Company spezialisieren Burel und ihr Team sich auf einen neuen Schwerpunkt: Diversität in all ihren Dimensionen – neben den sechs klassischen Diversity-Dimensionen beschäftigen sie sich mit den unsichtbaren Faktoren soziale Herkunft und mentale Diversität. Das Thema Mental Health beschäftigt sie intern als Führungskräfte wie auch extern bei Kundinnen und Kunden

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