Frau Latrache, Sie unterstützen Unternehmen bei der inneren und kollektiven Transformation, in der Sie achtsame Führung als elementares Element sehen. Was genau verstehen Sie darunter?
Mounira Latrache: Achtsame Führung ist die Fähigkeit, als Führungskraft einen Schritt zurückgehen zu können und zu verstehen, aus welchem Raum heraus man eigentlich agiert. Dabei hilft es, aus dem kontrollierenden und hierarchischen Verhalten raus- und in ein Verhalten hineinzugehen, das Menschen empowert. Voraussetzung hierfür ist, dass die Führungskraft erst mal die Wahrnehmung für das eigene Verhalten schärft.
Warum ist diese Wahrnehmung so wichtig?
Achtsamkeit ermöglicht, zu erkennen, wie ich mit mir selbst und anderen umgehe. In der Auseinandersetzung mit mir selbst kann ich reflektieren, wie ich nach außen agiere.
Wie kommt das bei den Führungskräften an?
Am Anfang meiner Arbeit, so vor über zehn Jahren, wurde ich mit meinem Ansatz oft missverstanden. Da war das eher so ein Hippie-Thema. Heute verstehen Führungskräfte immer mehr, dass sie bei sich selbst anfangen müssen, wenn sie ein Vorbild sein wollen, und auch eine Balance für sich selbst finden müssen. Sie merken, dass sie in der Folge anders kommunizieren, empathischer werden. Dadurch entsteht eine Vertrauenskultur. Hinzu kommt: Wir befinden uns in einem agilen Zeitalter. Um agil arbeiten zu können, braucht es Vertrauen und das Gefühl, empowert zu sein. Die Führungskraft braucht die Fähigkeit, andere Menschen zu befähigen und zu entwickeln. Es ist eine zentrale Aufgabe einer Führungskraft, eine Kultur des Vertrauens zu schaffen. Das gelingt nur, wenn die Führungskraft mit sich selbst im Reinen ist. Ich sehe immer mehr Führungskräfte erfolgreich auf diesem Weg.
Worauf führen Sie zurück, dass Führungskräfte ihre Haltung ändern?
Es ist mittlerweile klar, dass wir auch auf der strukturellen Ebene in eine andere Form von Unternehmen gehen. Wir kommen aus dem Zeitalter der Industrialisierung, und da waren ganz andere Dinge notwendig, hierarchische Strukturen waren sogar hilfreich. Jetzt gehen wir aus diesem sehr linearen Arbeiten in das Netzwerk-Arbeiten. Und da kann und soll eben die Führungskraft nicht mehr jede Entscheidung selbst treffen, weil es viele kleine Entscheidungen sind. Es gilt jetzt, die Kompetenzen und Fähigkeiten im Netzwerk zu heben. Wir können uns nicht mehr so viel Zeit lassen mit Entscheidungen wie früher, vieles passiert unter Druck. Dadurch werden sich zwangsläufig neue Strukturen und Arbeitsweisen etablieren. Es reicht nicht, dass wir Scrum oder diese ganzen anderen neuen Tools einsetzen. Das Spannende ist, dass die Leute jetzt merken: Moment mal, wir haben doch alle Tools angewendet. Warum funktioniert jetzt die Transformation nicht? Grund Nummer eins ist: weil die Menschen nicht mitziehen. Jetzt könnte man sagen, die Menschen blockieren, aber in Wahrheit kann Transformation nicht gelingen, wenn wir die Menschen und den notwendigen Kulturwandel, der Zeit braucht, nicht miteinbeziehen.
Sie plädieren dafür, dass in Unternehmen neue authentische Räume entstehen, in denen jeder Mensch so sein kann, wie er oder sie wirklich ist. Welche Rolle spielt das in diesen Veränderungsprozessen?
Wenn alle Mitarbeitenden flexibel Entscheidungen treffen müssen, dann brauchen sie einen sicheren Raum, in dem sie das Gefühl haben, sie können so sein, wie sie sind, und ihre Fähigkeiten frei nutzen können. Je mehr die Führungskraft die Mitarbeitenden empowert, einzigartig und authentisch zu sein, desto mehr kommt eine authentische Kraft zum Vorschein, mit der Menschen sich ganz anders oder ganz neu einbringen. Daraus entsteht Innovation. Wir müssen heute viel kreativer mit Lösungen sein, und je größer die psychologische Sicherheit, desto mehr trauen sich Menschen, ihre Kreativität auszuschöpfen. Authentizität ist ein wichtiger sicherer Raum, in dem wir uns auch verletzlich zeigen können.
Authentizität heißt auch, zuzugeben: Mensch, das ist ganz schön schwierig, und wir stecken mit diesen Schwierigkeiten alle gemeinsam im Boot. Und zu überlegen, wie schaffen wir es, offen zu teilen, wie es uns dabei geht, und wieder gemeinsam nach vorne zu gucken. Stattdessen leiden viele Mitarbeitenden oft still vor sich hin, wenn sie nicht klarkommen. In einem psychologisch sicheren Raum ist es erlaubt, über Schwierigkeiten und Bedenken zu sprechen. Dadurch entsteht eine positive Fehlerkultur. Weil niemand befürchten muss, sanktioniert zu werden, wenn er oder sie einen Fehler macht oder sich überfordert fühlt. Und man sieht auch, dass andere Fehler machen, und niemand hat mehr das Gefühl: Die sind ja alle besser als ich. Dies ist ein zentraler Veränderungsprozess, der neue Arbeit erst möglich macht.
Welche Bedeutung hat die Kompetenz der Selbstführung für die neue Arbeit?
Jemandem, der oder die nicht die Fähigkeit zur Selbstführung erlernt hat, fällt es schwer, agil zu arbeiten. Das ist meine Beobachtung. Wer in diesen wechselhaften Zeiten nicht in der Lage ist, Ruhe in sich selbst zu finden, kann auch anderen Menschen keine Orientierung bieten. Wenn das Umfeld unberechenbar oder komplex ist, brauchen wir den Anker in uns selbst. Die individuelle Reise ist wichtig, um die eigenen Werte zu kennen und sich nicht von äußeren Umständen in eine Art Autopiloten bringen zu lassen. Das gilt nicht nur, aber vor allem für Führungskräfte.
Haben Sie ein Beispiel, welche Auswirkung das Bewusstsein zur Selbstführung in der Praxis hat?
Jetzt mal angenommen, ich gehe immer in die Kontrolle, wenn es Probleme gibt. Erst mal ist das nicht schlimm. Aber im nächsten Moment sollte ich wahrnehmen: Okay, jetzt gehe ich gerade in die Kontrolle. Dann kann ich entscheiden: Will ich die Kontrolle weiterlaufen lassen oder gehe ich einen Schritt zurück und reflektiere über meine Bedürfnisse, Verhaltensweisen und welche Werte ich leben möchte, um dann zu verstehen, wer ich in einer solchen Situation eigentlich sein will? Dann merke ich: Eigentlich wollte ich doch empowern. Es wird gerade ganz viel von Mindset-Shift geredet. Aber der allein reicht nicht – das alles funktioniert nur, wenn ich nicht nur verstehe, was passiert, sondern dies auch in meinen Worten und Taten verkörpere. Dafür braucht es Fähigkeiten wie Selbstwahrnehmung, sodass wir das Neue verkörpern können. Und natürlich Mut zur Offenheit, wenn es mal nicht gelungen ist.
Kann man bessere Entscheidungen treffen, wenn man weiß, wer man selbst ist, also wenn man seine eigenen Schwächen, Verhaltensmuster, Stärken und Prinzipien kennt, sich seiner Werte und Glaubenssätze bewusst ist?
Das habe ich selbst als Führungskraft immer wieder erlebt. Nach meiner tiefen Selbstreflexion habe ich gemerkt, mit mir passiert etwas. Ich kann viel besser zuhören, ich sehe die Probleme viel besser, ich kann viel schneller Entscheidungen auf den Punkt treffen. Und es macht plötzlich alles so viel mehr Spaß.
Sie haben Ihren Weg, wie Sie gelernt haben, sich selbst zu führen, in Ihrem Buch Connected Business zusammengetragen. Was waren die wichtigsten Erkenntnisse?
Der erste Schritt war, mich selbst wieder zu finden und zu verstehen, wer ich sein will, wie ich mit mir umgehen will und welche Werte mir wichtig sind. Nach dieser Reflexion habe ich überlegt: Was heißt das jetzt in Bezug auf Führung und Umgang mit anderen? Und dann habe ich auch verstanden, dass ich gar nicht mein Umfeld verändern muss, sondern ich muss mich verändern. Ich habe beispielsweise einen Job gekündigt und im nächsten Job war erst mal alles super, aber kurze Zeit später auch eigentlich nicht anders. Da habe ich gemerkt, es sind nicht die anderen, es liegt an mir. Wenn ich ständig überarbeitet bin, hat das vielleicht gar nichts mit der Arbeit zu tun, sondern mit mir selbst. An meinem Höher-schneller-weiter-Anspruch beispielsweise, der mich immer wieder an meine Grenzen bringt. Und dann habe ich mich gefragt: Warum mache ich das eigentlich? Ich habe Dinge an mir entdeckt, für die ich vorher blind geworden war. Ich kann nur sagen, es hat mich auf jeden Fall geerdet und auch bescheiden gemacht. Ich kann sehr empfehlen, erst mal bei sich selbst aufzuräumen. Dann ändert sich auch außen einiges. Und es ist ein sehr schönes Gefühl zu sehen, dass Führung nicht mit Macht funktionieren muss, sondern mit Ehrlichkeit, Vertrauen und Verletzlichkeit. Man muss keinen Druck ausüben, damit Leute ihre Arbeit machen.
Sollte die Kompetenz zur Selbstführung einen festen Platz in Personal- oder Führungskräfteentwicklungsprogrammen bekommen?
Die Zukunft der Arbeit spricht eine neue Sprache. Es geht um regenerative Ökosysteme auf Basis von Vertrauen – Agilität ist ein Element davon. Egal wie viele Tools ich anwende, es heißt noch lange nicht, dass ich die Vokabeln beherrsche. Ein Beispiel: Ich fühle mich ein bisschen französisch, wenn ich ein leckeres Croissant esse, aber selbst wenn ich das zehn Jahre mache, würde ich die Sprache immer noch nicht sprechen.
Daher sehe ich auch eine große Gefahr darin, wie wir heute agieren. Wir verändern zwar viel, aber wir verkörpern nicht die Fähigkeiten, die wir dazu brauchen. Dazu gehören Selbstwahrnehmung und Authentizität. Damit können wir gemeinsam vertrauensvoll in die Selbstverantwortung gehen. Transformation bedeutet für mich im tieferen Sinne, auch Altes loszulassen. Das ist der schwerste Schritt von allen. Ohne diese innere und kollektive Transformation werden wir immer wieder ähnliche Situationen kreieren und nicht wirklich vorankommen. Ich wünsche mir für alle jungen Leute, die ihr Leben in der Zukunft der Arbeit verbringen werden, dass sie empowert werden und eine Welt vorfinden, in der sie so sein können, wie sie sind. Dass sie authentisch sein können, ohne sich falsch zu fühlen oder sich hinter einer Maske verstecken zu müssen.
Zur Gesprächspartnerin:
Mounira Latrache studierte Sozial- und Kommunikationswissenschaften an der Paris Lodron Universität Salzburg. Sie ist Mitgründerin und Geschäftsführerin des Beratungsunternehmens Connected Business. Latrache ist Autorin von Wie ich gelernt habe, mich selbst und andere zu führen (Ariston, 2020) und Referentin beim Balance Festival von Quadriga am 31. August 2023 und 1. September 2023 in Berlin (weitere Infos hierzu unter www.balancefestival.de).
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