Der Zufall kennt keine Vorurteile

Losverfahren

Ein kleines Holzstäbchen kann manchmal helfen: beispielsweise bei einer Aufgabe, die keine Person übernehmen will. Alle wählen ein Stäbchen. Eins ist kürzer, aber man sieht es nicht, denn alle stecken in einer Faust. Wer das halbe erwischt, „zieht den Kürzeren“ und ist dran. So wurden schon knifflige Aufgaben und Ämter verteilt: ganz einfach per Zufall.

Bereits Aristoteles lobte den Zufall als demokratisch. Eine Wahl sei „oligarchisch“, weil nicht alle die gleichen Chancen hätten. Auch Montesquieu schrieb: „Die Entscheidung durch das Los entspricht dem Wesen der Demokratie, die Entscheidung durch Wahl dem der Aristokratie.“ Gegen Klüngel und Seilschaften ist das Los blind.

Genau darum empfiehlt eine Forschungsgruppe aus Deutschland und der Schweiz, das alte Losverfahren wieder einzuführen: In einer Studie hat sie analysiert, was passiert, wenn Führungspositionen zum Teil zufällig vergeben werden. Die Rede ist vom „aleatorischen Verfahren“, vom lateinischen Wort für Würfel, „alea“: Im ersten Schritt werden geeignete Personen ausgesucht, im zweiten Schritt entscheidet das Los – und somit der Zufall.

„Zufallsentscheidungen haben gerade bei Spitzenpositionen viele Vorteile gegenüber herkömmlichen Auswahlverfahren“, sagt Margit Osterloh, Ökonomin, Professorin und eine Autorin der Studie. Es würden sich mehr Frauen und soziale Gruppen bewerben, die im obersten Management unterrepräsentiert seien. Vor allem, weil sie ihrer Leistung im reinen Wettbewerb weniger vertrauten. Der Würfel nutze Potenziale, die heute noch brachlägen, und schaffe mehr Diversität als eine Quote, sagt Osterloh: „Alles, was ein Verfahren quotiert, ist unvollkommen. Wir wissen heute doch noch gar nicht, welche Merkmale es alles gibt, die wir berücksichtigen sollten, um divers aufgestellt zu sein. Beim Zufall kommt jede oder jeder einmal dran. Ganz einfach.“

Macht und Entmachtung per Losentscheid

Auch im Venedig und Florenz des Mittelalters sowie an der Universität Basel sollte das Los entscheiden und mit dem Einfluss reicher Familien brechen. Heute hilft der Zufall bei der Auswahl von Geschworenen und Bürgerräten, bei Umfragen oder der Bildung von Teams in Wettkämpfen. Im Management aber ist er rar.

Wer „etwas dem Zufall überlässt“, handelt dem Sprachgebrauch nach wenig zielorientiert. Dabei mischt sich der Zufall fortwährend in Entscheidungen. Ort, Umgebung, Zeit, Familie: All das spielt mit, wenn wir uns entscheiden. Gerade weil so viele unbewusste Faktoren beteiligt sind, solle der Zufall mehr Macht bekommen, sagt Osterloh: „Wer sich bewusst ist, dass das Glück einen entscheidenden Anteil an der Auswahl hat, ist weniger von Hybris befallen und damit angenehmer in der Zusammenarbeit.“ Beispiele für eine solche Hybris, also Selbstüberschätzung, sind für die Wissenschaftlerin Politiker wie Silvio Berlusconi und Donald Trump sowie Pierin Vincenz, der inzwischen verurteilte ehemalige Chef der Schweizer Raiffeisenbank.

Warum also setzen Firmen nach wie vor auf klassische Auswahlprozesse, statt Positionen per Los zu besetzen? „Wer Macht hat, will sie nicht abgeben. Und das Losverfahren ist eines der großartigsten Entmachtungsinstrumente der Welt“, sagt Osterloh. Gerade darum sei es wichtig, mit Spitzenpositionen anzufangen. Theoretisch greift der Prozess für alle. Doch der Aufwand ist groß: Damit der Zufall walten kann und es keinen Klüngel gibt, muss eine exakte Anzahl an Kandidatinnen und Kandidaten vorab feststehen und alle Personen müssen gleichwertig geeignet sein. Jede Vorselektion birgt das Risiko eines Bias. „Je größer der Lostopf, desto geringer das Risiko, aber desto höher ist auch der Aufwand“, sagt Osterloh. Ganz so einfach wie das Stäbchenziehen ist es also nicht. Aber wenn es gut läuft, ist der Weg über den Zufall möglich und fair.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Spielen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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