Weitermachen oder aufhören?

Rezension

Kurz bevor Annie Duke ihre Promotion hätte abschließen können, brach sie ab. Die US-Amerikanerin war damals 26 Jahre alt, hatte einen Abschluss in Anglistik und Psychologie in der Tasche und promovierte bereits fünf Jahre lang an der University of Pennsylvania in kognitiver Psychologie. Etwas anderes als die Akademikerinnen-Karriere hatte sie damals nicht für sich vorgesehen. Dann erkrankte sie plötzlich am Magen und musste eine längere Auszeit nehmen. Um Geld zu verdienen, begann sie professionell Poker zu spielen – und kehrte schließlich nicht mehr an die Universität zurück. Sie hatte eine Entscheidung gegen ihren Abschluss getroffen, in den sie viel Arbeit gesteckt hatte, um eine ungewisse Karriere als Pokerspielerin zu starten. Denn das Pokern machte sie glücklich. Schließlich gewann sie die Meisterschaft der World Series of Poker und zahlreiche weitere Turniere.

Heute liegt die Profi-Pokerkarriere hinter ihr und Annie Duke hat sich als Autorin und Beraterin für Entscheidungsfindungen profiliert. In diesem Frühjahr sind gleich zwei ihrer Titel auf dem deutschen Buchmarkt erschienen: Thinking in bets. Wie man immer die richtige Karte spielt aus dem Jahr 2018 und ihr aktuelles Sachbuch Quit. Loslassen als Chance. Darin erzählt sie auch auch die Anekdote über den Beginn ihrer Poker-Karriere, die zeigt, dass wir mitunter die versunkenen Kosten (die jahrelang investierte Arbeit in die Promotion) vernachlässigen sollten, wenn wir eine Lebensentscheidung treffen.

Für Quit hat Annie Duke mit vielen Menschen über das Aufhören gesprochen, etwa mit Nobelpreisträger Daniel Kahnemann, aber auch mit anderen Wissenschaftlerinnen, Entrepreneuren, Innovatoren und Führungskräften –, und sie hat sich durch einen riesigen Berg an Studien gearbeitet. All dieses Wissen präsentiert sie jedoch nicht anhand von vielen Zitaten oder Interviews und langen Studienerläuterungen. Sie erzählt eher Geschichten und unterfüttert diese mit Fakten; und so lesen wir spannende Anekdoten über Profisportlerinnen, NBA-Spieler, Gründer und Bergsteiger. An geeigneter Stelle schiebt sie Passagen über ihre lebensverändernden Entscheidungen in die Erzählung ein. Das macht dieses höchst komplexe Feld über das richtige Verhältnis zwischen Durchhalten und Aufgeben für die Lesenden mühelos zugänglich. Das gelingt auch, weil Duke eine geduldige und genaue Erzählerin ist.

Was lernen wir also? Alles Wissenswerte rund um den Besitztumseffekt, eskalierendes Commitment, K.-o.-Kriterien, den Effekt der versunkenen Kosten, den Status-quo-Fehler oder eine Werterwartung. Was das bedeutet, erklärt sie beispielsweise an einer Notärztin, die bei Duke Rat suchte.

Die Frau liebte ihren Job, aber durch Beförderungen und damit einhergehende massive Arbeitsbelastung wurde sie zunehmend unglücklicher. Bleiben oder eine neue Stelle annehmen? Seit einem Jahr wägte sie Vor- und Nachteile ab. Annie Duke fragte sie also: „Stellen Sie sich vor, es ist ein Jahr später und Sie sind bei der Stelle geblieben, die Sie jetzt innehaben – wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Sie am Ende dieses Jahres noch unglücklich sind?“ Hundert Prozent, war die Antwort. Daraufhin fragt Duke: „Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie unglücklich sein werden, wenn Sie die neue Stelle annehmen?“ Sie werde dort wohl mal zufrieden, mal unzufrieden sein, mutmaßte die Ärztin. Und kündigte die Stelle kurz darauf. Was hatte Annie Duke getan? Sie hat die Ausstiegsentscheidung als Frage der Werterwartung gestellt. Die Ungewissheit bot hier eine größere Werterwartung als der Status quo.

Eine Abbruchentscheidung zu treffen, heißt übrigens nicht, dass diese irreversibel ist. Kürzlich bekannte Annie Duke, mittlerweile 56 Jahre alt, in einem Podcast, dass sie wieder in der Universität of Pennsylvania eingeschrieben sei und 2023 ihre Dissertation beenden werde.

Annie Duke, Quit. Loslassen als Chance – Die Kraft des Neuanfangs. Ariston, 20 Euro, 336 Seiten. Erschienen im März 2023.
© Ariston

Annie Duke, Quit. Loslassen als Chance – Die Kraft des Neuanfangs. Ariston, 20 Euro, 336 Seiten. Erschienen im März 2023.

Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Flexibilität. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Jeanne Wellnitz (c) Mirella Frangella Photography

Jeanne Wellnitz

Redakteurin
Quadriga
Jeanne Wellnitz ist Senior-Redakteurin in der Wirtschaftsredaktion Wortwert. Zuvor war sie von Februar 2015 an für den Human Resources Manager tätig, zuletzt als interimistische leitende Redakteurin. Die gebürtige Berlinerin arbeitet zusätzlich als freie Rezensentin für das Büchermagazin und die Psychologie Heute und ist Autorin des Kompendiums „Gendersensible Sprache. Strategien zum fairen Formulieren“ (2020) und der Journalistenwerkstatt „Gendersensible Sprache. Faires Formulieren im Journalismus“ (2022). Sie hat Literatur- und Sprachwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin studiert und beim Magazin KOM volontiert.

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