Angenommen, einer Führungskraft wird ein komplett fremdes Team vor die Nase gesetzt. Die Aufgabe dieser Person ist es nun, die Dynamiken der Teammitglieder untereinander mit zwei Adjektiven zu beschreiben. Und zwar nur anhand der nonverbalen Kommunikation des Teams.
Die Wahrscheinlichkeit ist ziemlich hoch, dass die Führungskraft mit ihrer Einschätzung richtig liegt. Das zumindest zeigen jahrzehntelange Studien zur sogenannten Emotional Contagion Theory auf. In diesem Beitrag möchte ich anhand der Geschichte eines Teams die Tragweite und das potenzielle Vernichtungspotential der kollektiven Emotionen aufzeigen.
Die Ausgangslage
Vor einiger Zeit holte mich ein Unternehmen mit folgendem Auftrag ins Boot: Ein bestimmtes Team sollte sich von ihrer negativen Grundstimmung wegbewegen und stattdessen eine motivierende positive Arbeitskultur etablieren. Mit dieser Aufgabe ging ich zu dem Team. Um die aktuelle Situation besser verstehen zu können, führte ich einzelne Gespräche mit den Teammitgliedern. Wie sich herausstellte, war das Team einst hochmotiviert, agil und ambitioniert. Dies änderte sich, nachdem ein Teammitglied zur Führungskraft befördert worden war. Dadurch kam eine ganz neue Dynamik hinein – und zwar keine positive. Es fing zunächst mit harmlosen Gesprächen über die Führungskraft zwischen den Mitarbeitenden an. Doch schon bald beteiligten sich mehr und mehr Personen an dem Austausch über die Missstände im Team – alles hinter dem Rücken der neuen Führungskraft. Und so kam der Stein ins Rollen.
Die Emotional Contagion Theory
Es war das Gespräch mit einem Teammitglied, welches mich auf einen heißen Pfad brachte: Sie erzählte mir, dass sich beim Betreten des Büros schon herauskristallisierte, welche Laune sie im Laufe des Tages haben würde. Wenn sie direkt am Morgen in die angespannten und frustrierte Gesichter ihrer Kolleginnen und Kollegen schaute, übertrug sich die Stimmung auch auf sie. Sie konnte sich fast gar nicht gegen die Übernahme jener Emotionen wehren. Da schien etwas Subtiles in diesem Team zu passieren. Ich zog die Wissenschaft heran und stieß schon bald bei meiner Recherche auf die Emotional Contagion Theory. 1993 führte erstmalig die Psychologin Elaine Hathfield den Begriff der „Emotional Contagion Theory“ ein. Zu deutsch: die Theorie der emotionalen Ansteckung. Wie eine Studie an Studierenden ergab, übernehmen Menschen innerhalb von Millisekunden die nonverbalen Signale und Emotionen ihrer Mitmenschen und machen diese zu ihren eigenen. Dies geschieht in den meisten Fällen unbewusst und instinktiv. Im richtigen Kontext ist diese uns von Natur aus angeborene Eigenschaft sinnvoll. Sie hilft dabei, uns emotional auf unsere Mitmenschen einzustimmen und empathisch miteinander umzugehen.
Im Falle des besagten Teams war dies jedoch höchst problematisch. Als vor der Beförderung der neuen Führungskraft das Team ambitioniert und motiviert war, spielte ihnen die Emotional Contagion Theory in die Karten. Die Teammitglieder steckten einander regelrecht mit ihren positiven Emotionen an. Sie schaukelten sich mit ihren positiven Ideen und ihrer optimistischen Grundhaltung gegenseitig hoch. Als durch die neue Führungskraft mehr Missstände auftraten und die Teammitglieder erneut ungefiltert aufeinander reagierten, entstand sehr schnell eine Abwärtsspirale. So, wie sich die Teammitglieder zuvor gegenseitig motiviert hatten, zogen sie einander nun ziemlich stark herunter. Die Produktivität und Innovationskraft des Teams litten maßgeblich darunter. Ganz zu schweigen von der trägen und problemorientierten Grundstimmung des Teams, die die Lust auf das Arbeiten minderte.
Der Beginn von Toxizität
Es startet oftmals unschuldig: Man tauscht sich über die Missstände aus. Man fühlt sich verstanden. Man kann Wut und Frust kanalisieren. Und ja, es fühlt sich gut an, mit vermeintlich Gleichgesinnten über all das zu sprechen, was nicht gut läuft. Es ist sehr gesund, negative Emotionen zu verarbeiten und zu kanalisieren. Es sollte allerdings folgendes beachtet werden: Der anhaltende Austausch über Probleme und Herausforderungen signalisiert dem Nervensystem, dass die Arbeitsumgebung unsicher ist. Schließlich liegt ja der Fokus auf Problemen und Herausforderungen. So gelangt man in einen Zustand des dauerhaften Wachsam-Seins. Die Umgebung wird metaphorisch nach Gefahren abgescannt – immer auf der Lauer. Dies setzt Körper und Geist unter Stress. Der Körper wiederum signalisiert dem Nervensystem, dass der Mensch wachsam sein und nach Gefahren Ausschau halten muss. So werden Menschen regelrecht dazu verleitet, sich weiterhin auf die Probleme und Missstände zu fokussieren.
Ist schon zu erkennen, wie sich der Teufelskreislauf abzeichnet? Daher ist es die Aufgabe von Individuen, Führungskräften und Unternehmen, aufkeimende Negativität lösungsorientiert aufzuarbeiten. Je länger Missstände in Unternehmen verdrängt und geduldet werden, desto tiefer werden die Wurzeln für eine toxische Kultur gelegt. Aufgrund der besagten emotionalen Ansteckung kann die Negativität ihre Fühler immer weiter ausbreiten und sogar neue Mitarbeitende sofort anstecken.
Emotionale Intelligenz als Widerstand
Je ungefilterter und unbewusster Mitarbeitende die Emotionen in unserer Umgebung aufnehmen, umso stärker tragen sie zur Etablierung einer destruktiven und schädlichen Unternehmenskultur bei. Daher war es meine erste Aufgabe, mit dem besagten Team an dem Aufbau ihrer emotionalen Intelligenz zu arbeiten. Dank diesem gezielten Training konnten die Individuen schon nach kurzer Zeit erkennen, welche Emotionen ihre eigenen waren und welche sie ungefiltert aus dem Team aufgenommen hatten. Schon nach kurzer Zeit zeichnete sich eine positive Entwicklung ab: Sie konnten bald proaktiv entscheiden, welche Emotionen sie aus ihrem Umfeld aufnehmen wollten, beispielsweise die motivierenden, und welche für sie nicht hilfreich waren.
Dieser erste Schritt war die Grundlage für einen fundamentalen Kultur-Shift im Team. Fortan waren die Teammitglieder nicht der negativen emotionalen Grundstimmung ausgeliefert, sondern konnten sich von dieser distanzieren. Dadurch konnten Motivation, Ambition, Fokus und Lösungsorientiertheit immer mehr Einzug erhalten.
Selbsttest: Die emotionale Dynamik der eigenen Gruppen
Sobald Gruppen längere Zeit miteinander interagieren, entstehen unverkennbare Dynamiken. Wie reagiert man auf diese Dynamiken? Dafür hilft dieses Experiment:
- Denke an drei verschiedene Gruppen, mit denen du regelmäßig interagierst (zum Beispiel in der Arbeits-, Freundes- oder Familiengruppe). Welche emotionale Dynamik kennzeichnet jede der drei Gruppen aktuell? Es geht hier ausdrücklich um deine intuitive Wahrnehmung der Dynamiken und nicht um kognitive Antworten. Schreibe pro Gruppe zwei Adjektive auf ein Blatt Papier (wie motiviert, hilflos, ambitioniert, selbstwirksam, pessimistisch,…)
- Beobachte im nächsten Schritt dich selbst: Wie ist deine emotionale Grundstimmung, bevor du in die Gruppe eintrittst? Wie verändert sich deine Grundstimmung während der Interaktion mit der Gruppe? Wie fühlst du dich nach der Interaktion mit der Gruppe? Notiere schriftlich deine emotionale Verfassung nach jeder Interaktion mit den Gruppen mit zwei Adjektiven.
- Stelle nun die Ergebnisse aus Übung 1 und Übung 2 einander gegenüber. Wie sehr decken sich deine eigenen Emotionen mit denen deiner Gruppen?
Wenn sich die Dynamiken zwischen dir und deiner Gruppen oft decken, dann kann dies ein Indiz dafür sein, dass du oft von der emotionalen Ansteckung Gebrauch machst.
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