Tech-Branche: Der große Rauswurf

Massenentlassungen

Nach fast 20 Jahren im Job blieben ihm nur wenige Stunden, um seine Sachen zu packen und zu gehen. Jeremy Joslin war 19 Jahre und elf Monate lang Softwareentwickler bei Google. Eines Morgens sieht er eine Warnung auf seinem Arbeitshandy: Sein Account werde deaktiviert. Ein Blick in die E-Mails zeigt: Es war kein Versehen. Er ist einer von 12.000 Mitarbeitenden, die an diesem Tag ihren Job bei der Holding Alphabet verlieren. Für Joslin ist es ein „Schlag ins Gesicht“: „Ich bin traurig, dass ich nicht die Gelegenheit hatte, mich persönlich von Freunden und Kollegen zu verabschieden“, schreibt er auf Linkedin und Twitter.

„Unmenschlich“, „kaltherzig“ und „feige“ nennen Mitarbeitende den Stil, wie Alphabet sie entlässt. Es sei „eine schwierige Entscheidung“, um den Konzern „für die Zukunft aufzustellen“, schreibt CEO Sundar Pichai in seinem Post. Man habe sich „auf eine andere wirtschaftliche Realität eingestellt als die, die wir heute vorfinden“. Denn: In der Coronapandemie erlebte die Digitalisierung einen Schub. Arbeit, Bildung, Freizeit: Alles verlagerte sich ins Netz. Dazu gab es günstig Geld: Bei niedrigen und zum Teil Negativzinsen waren Anlegerinnen und Anleger gewillt, in Unternehmen zu investieren, statt ihr Geld auf der Bank zu verlieren. Das hat sich geändert. Die Zinsen steigen. Und die neue Krise heißt Inflation, so dass Umsätze und Werbemärkte einbrechen. Jetzt machen auch Investoren Druck, Kosten zu reduzieren, zum Beispiel bei Alphabet.

Amazon, Cisco, Dell, Microsoft, Spotify, Salesforce: Etliche Tech-Firmen entlassen gerade so viele Angestellte wie noch nie zuvor. Auf über 100.000 summieren sich die Stellen, die allein im Januar gestrichen wurden. Begonnen hat die Kündigungswelle schon im letzten Jahr. Dabei schockieren nicht nur die Zahlen, sondern gerade die Art und Weise, wie viele Unternehmen sich von ihren Angestellten trennen.

Am 9. November schreibt Mark Zuckerberg, CEO von Meta, dass er 11.000 Stellen abbauen werde. Der Konzern müsse sich „schlanker“ aufstellen. 2023 werde das „Jahr der Effizienz“. Mitte März wird klar: Es müssen 10.000 weitere Menschen gehen. Nach dem Boom in der Coronapandemie hätten viele vorhergesagt, es würde so weitergehen, schreibt Zuckerberg in seinem Post. Doch das sei falsch gewesen. Er habe sich geirrt „und übernehme die Verantwortung“. Meta zahle eine Abfindung, Sozialkosten und eine Karriereberatung. Die Betroffenen müssten aber Verständnis haben, dass ihr Zugang zu internen Systemen gesperrt werde. „Wir halten die E-Mail-Adressen den ganzen Tag über aktiv, damit sich alle verabschieden können.“ Einen einzigen Tag: Auch das klingt wie ein Schlag ins Gesicht.

SAP will nicht wie andere sein

„So etwas entspricht nicht unseren Werten und unserem Selbstverständnis“, sagt Cawa Younosi, Personalchef Deutschland und Global Head of People Experience bei SAP. Auch der Softwarekonzern aus Walldorf muss Stellen abbauen: 3.000 insgesamt. Die Nachricht fiel Ende Januar mitten in die Kündigungswelle aus dem Silicon Valley. Doch die Hintergründe sind anders: SAP restrukturiert ihr Portfolio. Man wolle sich auf das Kerngeschäft fokussieren, schreibt CEO Christian Klein. Einige Organisationseinheiten und Stellen würden wegfallen, aber es gäbe keine Kürzungen quer durch den Konzern wie bei anderen Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley, sagt Younosi: „Uns geht es nicht darum, Kolleginnen und Kollegen um Kostensenkungswillen loszuwerden. Im Gegenteil: Sie können und sollen sich auf eine andere Stelle im Unternehmen bewerben, die zu ihnen passt.“

Rund 5.100 offene Positionen hat SAP zurzeit. Von den 3.000 Personen, die im Zuge der Umstrukturierung ihren Job verlieren, würden viele im Unternehmen Platz finden. Wie viele, das weiß Younosi nicht. 20 bis 25 Prozent, hofft er. Alle würden in einem persönlichen Gespräch über die Schritte und Möglichkeiten informiert, weiter Zugang zum internen Stellenpool erhalten sowie eine „Rote-Teppich-Lösung“, wenn sie ein Job interessiert: einen Rückruf des Recruitings innerhalb von 48 Stunden.

In Deutschland gibt es für solche Abläufe Betriebsvereinbarungen. Ein Rausschmiss à la Silicon Valley ist schon rechtlich nicht möglich. SAP möchte aber weltweit besser sein. Younosi will sich nicht vorwerfen lassen, dass SAP seinen Anspruch verletze, „Kolleginnen und Kollegen als Menschen zu respektieren“. Derweil scherzen einige auf Social Media, dass Google damit scheitere, „nicht böse“ zu sein. Fairerweise muss man sagen, dass der Konzern seinen Slogan „Don’t be evil“ schon vor fünf Jahren aufgegeben hat.

Das Aus für Traumgehälter?

Die Konzerne, die gerade massenhaft Menschen enttäuschen, gehörten lange zu den besten Arbeitgebern der Welt. Und: Sie haben überdurchschnittlich gut gezahlt. Damit könnte Schluss sein, schreibt unter anderem Fortune. Big Tech sei in der Realität angekommen. Zum einen, weil es plötzlich zu viele Arbeitskräfte gibt, zum anderen, weil die Unternehmen lernen mussten, dass Wachstum endlich ist.

„Der Digitalbranche geht es immer noch besser als der Gesamtwirtschaft“, sagt Daniel Breitinger, Leiter des Start-up-Teams beim Branchenverband Bitkom. Während einige Firmen schrumpfen, würden andere zulegen: Energieeffizienz, Kreislaufwirtschaft und künstliche Intelligenz seien große Wachstumsbereiche, sagt er. Und: „Es ist eine permanente Fluktuation. Nur war sie in den letzten zwei Jahren besonders extrem.“ Start-ups hätten einen natürlichen Wachstumstrieb und würden häufig schnell Leute einstellen. Entsprechend mussten sie viele entlassen – teilweise bis zu 50 Prozent der Belegschaft, wie etwa beim deutschen Start-up Infarm.

Wenn es eine permanente Fluktuation gibt, könnte es einen Trend stärken, den Beratungsfirmen prognostizieren: das Freelancing. Die Boston Consulting Group hat recherchiert, dass Arbeitskräfte in der Selbstständigkeit mehr Unabhängigkeit und Flexibilität finden. Laut Gartner sind IT-Fachkräfte weniger gewillt, sich dauerhaft an einen Arbeitgeber zu binden. „Manche Top-Talente wollen in Start-ups mit schlanken Strukturen arbeiten und verlassen diese, wenn sie zu groß werden“, sagt Breitinger. Die Bundesregierung könne einiges tun, um Freelancer zu stärken. Vor allem aber solle sie Start-ups fördern, die mit der Finanzlage kämpfen, und zum Beispiel die Gutscheine umsetzen, die sie in der Digitalstrategie verspricht: Mit ihnen kann der Mittelstand Start-ups beauftragen, sie digital fortzubilden. Das würde beiden zugutekommen – und Top-Talente sichern, die Deutschland nach wie vor braucht.

Laut einer Studie von McKinsey fehlen Deutschland im öffentlichen Dienst bis zum Jahr 2030 140.000 IT-Fachkräfte. „Tech-Talente, come to Bavaria!“, wirbt Bayerns Digitalministerin Judith Gerlach. Ehemals Beschäftigte von „Google, Microsoft und Co.“ könne der Freistaat gebrauchen. „Die aktuellen Kündigungen ändern nichts daran, dass wir einen Fachkräftemangel haben“, sagt Breitinger. „Noch immer ist es ein Arbeitnehmermarkt, auf dem sich Arbeitgeber positionieren müssen.“

Anders als zum Beispiel in der Automobilwirtschaft gibt es keinen Strukturwandel, der digitale Kompetenzen ersetzt. Auch Alphabet oder Amazon stellen nach wie vor Personal ein. Doch die Verunsicherung ist groß. Auch, weil der Stellenabbau wie aktuell bei Meta weitergeht oder weitergehen kann. Für das Employer Branding sind es schwierige Zeiten.

Als CEO Verantwortung übernehmen

Um eine Verunsicherung zu vermeiden, sei es wichtig, schnell, offen und klar zu kommunizieren, sagt Younosi. „Wir dürfen keinen Raum für Spekulationen lassen. Jede Minute zählt, um die Akzeptanz zu erhöhen.“ Nachdem die Nachricht des CEO zur Umstrukturierung raus war, habe er im Rahmen einer Mitarbeiterversammlung sofort die Bereiche eingegrenzt, die es betrifft, und offen gesagt, wie SAP mit den Betroffenen in Deutschland umgehen wolle, nämlich vor allem ohne betriebsbedingte Kündigungen.

HR habe sich voll darauf konzentriert, präsent zu sein und hektische Massen-E-Mails zu verhindern, sagt Younosi. „Meine Erfahrung ist: Natürlich kann es in jedem Konzern unangenehme Themen geben. Aber solange sie betriebswirtschaftlich erklärbar sind, geht es nicht um das ‚Was‘, sondern um das ‚Wie man es macht‘.“

Dass sich viele Konzerne betriebswirtschaftlich vertan haben, schreiben sie selbst in ihren Posts. Genauso, dass die Chefs „die volle Verantwortung“ übernehmen. Doch tun sie das? Einzig der CEO von Zoom (1.300 Kündigungen) hat erklärt, sein Gehalt um 98 Prozent zu kürzen. Gut gemeint war auch die Reaktion des CEO von Klarna: Sebastian Siemiatkowski postete auf Linkedin eine Liste mit Name, Funktion, Ort und E-Mail von 600 betroffenen Mitarbeitenden, die der Zahlungsdienstleister entlassen hat. Sie hatten sich selbst auf die Liste gesetzt, auch wenn sie nicht damit rechneten, dass ihre Kontaktdaten auf Linkedin landen. Inzwischen ist die Spalte mit der E-Mail-Adresse gelöscht. Vermitteln will der CEO weiterhin. Denn: In der Krise können Firmen zeigen, was es heißt, trotzdem ein guter Arbeitgeber zu sein. Offenkundig gibt es da noch großen Diskussionsbedarf.

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Dieser Beitrag erschien zuerst in der gedruckten Ausgabe Spielen. Das Heft können Sie hier bestellen.

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Mirjam Stegherr, Journalistin, Moderatorin und Beraterin

Mirjam Stegherr

Freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin
Mirjam Stegherr ist freie Journalistin, Moderatorin und Beraterin.

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