Wer kennt sie nicht, die Tage, an denen die Haare einfach nicht sitzen oder das Arbeitszimmer (in Pandiemiezeiten auch gerne der Küchentisch) unaufgeräumt ist? Und klar, an genau diesen Tagen steht eine wichtige Präsentation, ein großes Meeting oder ein Bewerbungsgespräch an. Obgleich die Forschung zeigt, dass Menschen Veränderungen bei anderen weniger wahrnehmen, erzeugt das eigene Wissen um den schief sitzenden Scheitel oder den Wäscheberg im Hintergrund Unbehagen und zusätzlichen Stress.
Der bereits 1999 erstmals beschriebene so genannte Spotlight-Effekt (Scheinwerfer-Effekt) führt dazu, dass wir unsere eigene Bedeutung für die Menschen um uns herum übertrieben einschätzen (positiv wie negativ). Das führt dazu, dass wir Situationen falsch bewerten und Entscheidungen treffen, die auf unserer überzogenen Annahme basieren, ständig beobachtet und im Rampenlicht zu stehen.
In der derzeitigen Virtualität unserer Arbeit hat dieser Effekt nochmal eine weitere Dynamik erhalten, mit nachhaltig negativen Effekten für die eigene Produktivität. So fallen bei Videokonferenzen wesentliche Aspekte der visuellen Kommunikation weg, etwa Gestik der Hände, aber auch weitere nonverbale Zeichen. Diese müssen dann vom Gehirn in der Interaktion automatisch ergänzt werden. Intensives Schauen, Gesprächspausen und Schweigen oder Verzögerungen bei der Reaktion in Telefonkonferenzen können die mentale Erschöpfung verstärken. Der Spotlight-Effekt trägt ebenfalls zur so genannten „Zoom fatigue“, also dem Gefühl der Erschöpfung durch Videokonferenzen, bei und mindert über längere Zeiträume hinweg die Leistungsfähigkeit. Jeremy N. Bailenson, Professor für Kommunikation an der Stanford University kam in seiner Untersuchung zu der Erkenntnis, dass Menschen mehr Zeit während eines Videomeetings damit verbringen, auf ihr eigenes Aussehen zu achten. Aufgrund der geringen Bildgröße ist dies in etwa so als schaue man den ganzen Tag in einen Taschenspiegel – mit entsprechender Auswirkung auf die Konzentration und Leistungsfähigkeit. Der Effekt wirkt sich übrigens deutlich schlechter auf Frauen als auf Männer aus, wie die Untersuchung weiterer Forscher:innen der Stanford University belegen konnte. Frauen leiden demnach häufiger unter der Fatigue, da sie nonverbales Kommunikationsverhalten in virtuellen Settings stärker unterdrücken, aus Sorge ansonsten unseriös zu erscheinen.
Die einfachste Lösung: einfach mal den Scheinwerfer, also die Videokamera, ausschalten. Auch zum guten alten Telefonhörer greifen hilft, wenn keine Präsentation gezeigt wird und daher Austausch auch einfach per Audio möglich ist. Des Weiteren helfen Begrenzungen von Meeting-Zeiten, Pausen und eine lebendige Moderation (siehe auch die IBE-Studie)
Aus den Augen, aus dem Sinn
Schon vor Corona – etwa in global arbeitenden Teams – wurde der „Distance Bias“ erforscht, also die Tendenz, dasjenige zu bevorzugen, was uns am nächsten ist. Auf diesen Effekt, der sich durch das vermehrte Arbeiten von Zuhause natürlich auch in lokalen Teams verstärkt, müssen wir zunehmend Acht geben. Die Verzerrung tritt zudem nicht nur in Bezug auf den physischen Raum auf, sondern auch mit Blick auf die Zeit. So neigen wir dazu, nahende Termine als wichtiger zu betrachten als weiter entfernte. Diese Voreingenommenheit wirkt sich meist auf unsere Fähigkeit aus, Aufgaben zu priorisieren, und freie Kapazitäten bei uns oder unseren Mitarbeiter:innen richtig einzuschätzen. In einer Studie über sozial verantwortliche Investitionen (SRI-Fonds) fanden Forscher:innen beispielsweise heraus, dass Fondsmanager unbewusst lokale Firmen für ihre Portfolios bevorzugten und nicht Firmen in anderen Städten. Nähe ist also eindeutig wichtig für die Entscheidungsfindung in verschiedenen Bereichen, aber nicht unbedingt ein optimales Entscheidungskriterium.
Distanzverzerrung und Bewertungen von Mitarbeiter:innen
Zunächst sollten sich Führungskräfte darüber bewusst werden, wie sich diese Voreingenommenheit auf die Bewertung von Mitarbeiter:innen auswirkt. Der Distance Bias kann dazu führen, dass sich Vorgesetzte auf Mitarbeiter:innen verlassen, die sichtbarer sind, auch wenn diese Mitarbeiter:innen nicht unbedingt die beste Wahl für eine bestimmte Aufgabe oder Rolle sind. Produktive Mitarbeiter:innen hingegen, die „aus den Augen, aus dem Sinn“ sind, bekommen dadurch weniger Chancen, für gewisse Projekte oder Beförderungen in Betracht gezogen zu werden. So konnte eine Prä-Corona-Studie nachweisen, dass bei gleicher Leistung diejenigen bis zu 50 Prozent geringere Beförderungschancen hatten, die zu Hause arbeiten – auch bedingt durch weniger Entwicklungsgespräche.
Was hilft?
- Wie auch beim Recency-Effekt (letzter Eindruck), hilft es, sich über längere Zeit die individuelle Leistung des Mitarbeiters oder der Mitarbeiterin anzuschauen und Informationen zu sammeln, die ein genaues Bild über die tatsächliche Produktivität ergeben, um eine evidenzbasierte Entscheidung beispielsweise über die Beförderung zu treffen.
- Führungskräfte müssen den zufälligen Schnack am Kaffeeautomaten virtuell für alle sicherstellen. Dazu eignet sich beispielsweise einmal pro Monat eine halbe Stunde, die virtuell wirklich nur für den Smalltalk eingeplant ist, wo aber allen im Team einzeln einmal die Chance gegeben ist, sozialen Austausch mit der Führungskraft zu haben.
- Arbeitsaufgaben gemeinsam priorisieren und sich nicht auf die Zeit oder physische Entfernung als Maßstab verlassen. Auch weit in der Zukunft liegende Termine erfordern einen beträchtlichen Planungsaufwand und haben möglicherweise einen weit größeren Einfluss als nähere Termine. Haben alle im Team einen Platz am virtuellen Tisch und tauschen sich regelmäßig über die Projekte aus, lassen sich am besten die richtigen Prioritäten setzen.
Wenn das Arbeiten von zu Hause auch nach der Pandemie die Realität bestimmt, ist es wichtig, die kognitiven Wahrnehmungsverzerrungen zu kennen. Denn diese können uns davon abhalten, einerseits bessere Arbeit zu leisten, andererseits aber auch gesund produktiv zu bleiben und dafür entsprechend beurteilt zu werden.
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