Quasi über Nacht hat die (digitale) Transformation bei uns und in vielen anderen Unternehmen ein neues Level erreicht. Die Einführung neuer Technologien verändert die Zusammenarbeit dramatisch. Unter normalen Umständen hätten wir uns dieses Tempo so nicht zugetraut. Es fühlt sich an, als ob wir gerade zwei Jahren überspringen. Und es ist ein gutes Gefühl.
Die neue digitale Zusammenarbeit forciert die Einführung einer neuen „Augenhöhe“ in der Organisation. Es spielt keine Rolle mehr, wer welches Auto fährt, ob man ein großes Einzelbüro oder einen Office-Space-Arbeitsplatz hat, einen schicken Titel trägt oder eine Assistenz hat. Hierarchien treten in den Hintergrund: Wir sitzen vor den Monitoren in virtuellen Konferenzen und sehen dabei alle irgendwie gleich aus: Gesichter im „Vier-mal-vier-Zentimeter“-Format. Das hat manche Nachteile, aber mindestens einen Vorteil: Statussymbole spielen da kaum mehr eine Rolle. Die neue Krisen-Situation führt uns an die ureigenen Charaktereigenschaften heran: Menschlichkeit, Vertrauen, Kooperationsbereitschaft und Augenhöhe. Welch eine historische Chance für jede ernstgemeinte Unternehmenstransformation, die sich mehr auf die Kunden und Mitarbeiter:innen ausrichtet!
Hierarchien im Kopf
Wer sich mit Führung beschäftigt, kommt um den Begriff der Macht nicht herum. Richtig an diesem Begriff ist, dass es bei Führung auch um die Fähigkeit zur Verhaltensbeeinflussung geht. Das wird aber oft missverstanden. Es heißt nicht, Menschen dazu zu zwingen, etwas zu tun, was sie nicht wollen. Wer Menschen den Weg weisen kann, durch Expertise, Ethos, Charisma und Verantwortungsübernahme, verfügt über solche Macht. Und davon würde ich gerne viel mehr sehen, denn sie ist nicht an Führungsebenen gebunden.
Modernes Führen heißt: People first plus Vertrauen! Denn schließlich geht es darum, die passenden Kompetenzen und Fähigkeiten in den Menschen zu finden, freizusetzen und zur Entfaltung zu bringen. Leader können Menschen dazu motivieren, besser zu werden, Schwierigkeiten und Widerstände zu überwinden. So gesehen bedeutet Führung sehr wohl, das Verhalten anderer zu verändern. Wer aber nur durch Belohnung, Sanktionierung, Legitimation und Micromanagement zu führen versteht, passt immer weniger in die zunehmend agile Arbeitswelt.
Macht durch Vertrauen
In einer modernen Organisationsform lösen sich die traditionellen Linien/Silo-Funktionen zunehmend auf. Menschen arbeiten in flexiblen Projektteams zusammen. Dazu gehören immer öfter Kund:innen und Geschäftspartner:innen – also Menschen, die rechtlich gesehen gar keine Weisungsbeziehung haben. Die Legitimation einer Führung durch Hierarchieebenen, verliert damit zwangsläufig an Bedeutung. Wer führen will tut dies nicht mehr aufgrund der „Sterne auf der Schulterklappe“. Hier sind neue Qualitäten gefragt: Die Fähigkeit zur Delegation von Verantwortung, Experimentierfreude, Bereitschaft zur Kooperation und die Fähigkeit, Richtungen aufzuzeigen. Man ist deswegen ein Leader, weil einem die Mitarbeiter:innen Vertrauen schenken – und nicht aufgrund der zweifelhaften Insignien einer hierarchischen Macht.
Friedhof der Statussymbole
Bei Fiducia & GAD läuft die Reise der Transformation nun seit über 22 Monaten und erreicht einen wichtigen Wendepunkt. Wir entwickeln uns weg von der klassischen Führungsstruktur, den damit verbundenen Privilegien und der Bürokratie – hin zu einer transparenten, hochgradig eigenverantwortlichen und geteilten Verantwortung. Ein wesentlicher Grundgedanke ist die konsequente Ausrichtung an externen und internen Kunden. Silos werden aufgelöst. Im Vordergrund steht eine Ende-zu-Ende Betrachtung der Kundenprozesse und des internen Serviceangebots – und was sie wirklich für Kund:innen und Mitarbeiter:innen leisten.
Klassische Führungsfunktionen wird es nicht mehr geben. Stattdessen setzen wir auf Tribe- und People Leads, die sich in den Dienst der Menschen stellen. Die Teams agieren dabei mit einem hohen Maß an Eigenverantwortung. Chapter Guides werden die gemeinsamen Spielregeln definieren. Sicherheit wird durch hohe Transparenz geschaffen. Orientierung entsteht durch die starke Zielorientierung aller Menschen im Unternehmen. Die Besetzung der Rollen erfolgt in gemeinsamen Besetzungskonferenzen mit den zuständigen Service- und Geschäftsfeldleitern, Mitarbeiter:innen und Betriebsräten – damit beginnt für viele in unserem Unternehmen ein neues Kapitel der Firmengeschichte.
Brauchen wir in diesem neuen Zusammenarbeitsmodell noch Statussymbole? Wir versuchen, Hierarchien im Kopf weitgehend abzuschaffen. Die neuen „Leads“ sitzen zusammen mit ihren Mitarbeite:innen. Sie werden zukünftig keine Einzelbüros haben, und auch das Angebot an Firmenfahrzeugen für Mitarbeiter:innen unterscheidet sich nicht von dem für Leadrollen. Flexible Arbeitsbedingungen und ein attraktives, standardisiertes (mobiles) Arbeitsplatzangebot helfen, dass alle ihr Bestes geben können. Nicht die Größe der Büros steht im Vordergrund, sondern die Kompetenz und der Verantwortungsrahmen, den jemand bereit ist zu übernehmen. Dafür werden neue Symbole entstehen, die Haltung, Mindset und Werte unserer neuen Organisation besser abbilden. Es geht um crossfunktionale, offene, ehrliche, transparente und eigenverantwortliche Zusammenarbeit. Es geht um die Bereitschaft, sich weiterzuentwickeln und Entscheidungen dort zu treffen wo die Kompetenz ist. Es geht um die Freiheit, quer zu denken (statt quer zu treiben) – in der Art wie man handelt und Probleme löst. Dafür schaffe ich gerne neuen Freiraum und wenn notwendig, gemeinsam neue Statussymbole. Materieller und hierarchischer Status landet hingegen auf dem Friedhof.
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